Willem Pietersz. Buytewech
Interieur mit handarbeitenden Frauen, 1617
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Willem Pietersz. Buytewech

Interieur mit handarbeitenden Frauen, 1617

Willem Pietersz. Buytewech

Interieur mit handarbeitenden Frauen, 1617

Dieses Blatt gehört, nach einer Zeichnung von David Vinckboons aus dem Jahre 1610, zu den ersten realistischen Innenraumdarstellungen der holländischen Kunst.(Anm.1) Die Lebensnähe in der Wiedergabe von Menschen und Einrichtung lässt die Tatsache vergessen, dass es sich hier nicht um eine „Vor-Ort-Aufnahme“ handelt, sondern um die Reinzeichnung eines Entwurfes aus dem Berliner Kupferstichkabinett.(Anm.2) Mit diesem stimmen die wesentlichen Elemente überein: die handarbeitenden Frauen vor dem offenen Herd – eine klöppelnd, die andere häkelnd –, das schlafende Kind in dem Alkoven rechts sowie einige Einrichtungsgegenstände wie die an der Wand hängende Bettpfanne.
Darüber hinaus aber erfolgte hier eine grundlegende Klärung der Komposition. Zu diesem Zweck reduzierte der Künstler den herumliegenden Hausrat und sorgte durch die neu hinzugefügten Bodenfliesen für eine perspektivische Verankerung der Möbel im Raum. Das entscheidende Bildelement ist indes die Karte, die hier erstmals als reines Dekorationselement dargestellt ist und, zusammen mit der Wiege, den an die Wand geklappten Tisch der Erstfassung ersetzt.(Anm.3) Ein derartiger Wandschmuck – hier ist es die Karte der Siebzehn Niederländischen Provinzen – war ein kostbarer Einrichtungsgegenstand, der nicht recht in die schlichte Wohnküche passen mag und wohl auch nicht den tatsächlichen Gegebenheiten entsprach.(Anm.4) Offensichtlich experimentierte Buytewech hier mit der ästhetischen Wirkung eines neuen Bildmotivs und schuf dabei den Prototypen für zukünftige Innenraumdarstellungen.
Die zweite wesentliche Veränderung gegenüber des Berliner Blattes ist die abweichende Lichtwirkung. Dem Herd als vormals einziger Lichtquelle macht nun das von links einfallende Tageslicht Konkurrenz. Dadurch wird die abendliche Szene umgedeutet zu einer Darstellung der häuslichen Tätigkeit am Tage, und der Innenraum ist nicht mehr Treffpunkt der ganzen Familie, sondern Domäne der Frauen und Kinder.(Anm.5)
Der Funktion einer Reinzeichnung entsprechend ist das Hamburger Blatt sorgfältiger gearbeitet und weist im Unterschied zu der Berliner Erstfassung nur eine Klebekorrektur auf: im Bereich des lesenden Burschen, zu erkennen an der nachträglichen Verfärbung. Durch Signatur und Datierung ist die Hamburger Zeichnung als eigenständiges Kunstwerk ausgewiesen, wobei die Zeitangabe alternativ auf den 2. März oder den 3. Februar 1617 bezogen werden kann.(Anm.6) Die besondere Bedeutung der Zeichnung wurde bereits im 18. Jahrhundert erkannt. So schrieb Valerius Röver, in Anspielung auf den Namen des Künstlers, diese Zeichnung stünde so weit außerhalb („buiten de weg“) der gewohnten Zeichenmanier, daß ihm nichts Vergleichbares bekannt sei.(Anm.7)

Annemarie Stefes

1 Vgl. Wolfgang Wegner, Herbert Pée: Die Zeichnungen des David Vinckboons, in: Münchner Jahrbuch der Bildenden Kunst 31, 1980, S. 35-128, S. 100–101 und Abb. 53: „Westindische Compagnie“, 1610, Wien, Grafische Sammlung Albertina, Inv.-Nr. 13372.
2 Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett, Inv.-Nr. KdZ 4609 (156 x 226 mm), Ger Luijten, Ariane van Suchtelen u.a.: Dawn of the Golden Age, Ausst.-Kat. Amsterdam, Rijksmuseum, Zwolle 1993/94, Nr. 296; dieses Blatt könnte „nach dem Leben“ gezeichnet worden sein, vgl. Egbert Haverkamp Begemann: Willem Buytewech, Amsterdam 1959, S. 32.
3 Vgl. Bärbel Hedinger: Karten in Bildern. Zur Ikonographie der Wandkarte in holländischen Interieurgemälden des 17. Jahrhunderts, Hildesheim, Zürich 1986, S. 23–24. Die erste Darstellung einer Wandkarte im Innenraum findet sich auf der unter Anm. 1 erwähnten Zeichnung Vinckboons’, steht dort aber in inhaltlicher Verbindung mit dem Thema der Darstellung. – Neu ist im Vergleich zur Erstfassung auch der besonders niedrig gebaute „Frauenstuhl“ der häkelnden Frau, vgl. C. Willemijn Fock (Hrsg.): Het Nederlandse interieur in beeld 1600-1900, Zwolle 2001, S. 41.
4 Bärbel Hedinger: Karten in Bildern. Zur Ikonographie der Wandkarte in holländischen Interieurgemälden des 17. Jahrhunderts, Hildesheim, Zürich 1986, S. 24. Eine gegenteilige Auffassung vertrat Fock 2001, S. 45 u. 49. Demnach sei die Karte zu bewerten als typische Wanddekoration für die Wohnküchen einfacherer Haushalte, die sich keine Gemälde leisten könnten.
5 Vgl. Reinhart Schleier: Die holländische Kunst des 17. Jahrhunderts, in: Funkkolleg Kunst, hrsg. von Werner Busch, München 1987, S. 678-702, S. 681–682 und Van Berge-Gerbaud, in: Ger Luijten, Ariane van Suchtelen u.a.: Dawn of the Golden Age, Ausst.-Kat. Amsterdam, Rijksmuseum, Zwolle 1993/94, S. 625. Den kochenden Familienvater des Berliner Blattes ersetzt hier der lesende Jüngling, dessen Gesicht durch einen Hut verdeckt ist.
6 „2. 3. 1617“ bzw. „3. 2. 1617“, vgl. Egbert Haverkamp Begemann: Willem Buytewech, Amsterdam 1959, S. 32 und 107.
7 „Deze is zoverre buiten de weg, van de gemeene manier van tekenen, dat ik er geen weerga van weet“, handschriftliches Inventar, 1705–31, Universitätsbibliothek Amsterdam, Inv. 11-A-18, Portefeuille Groot-folio N:12, Nr. 10.

Details zu diesem Werk

Beschriftung

Unten in der Mitte signiert und datiert: "Buetewech fecit / anno 1617. 23" (Feder in Braun)

Auf dem Verso unten links von der Hand Goll van Franckensteins nummeriert: "26" (Feder in Rot); oberhalb davon: Stempel der Hamburger Kunsthalle (L. 1328)

Wasserzeichen / Kettenlinien

Buchstabe, durch die Klebekorrektur verunklärt, vielleicht P, vgl. Heawood 3045-3050, oder H mit nach innen gewinkelten Längsbalken (Heawood deest)
ca. 23-24 mm (h)

Provenienz

Johan van der Does, Heer van Bergesteyn (1621-1704), Utrecht und Den Haag; Valerius Röver (1686-1739), Delft (bei L. 2987), Inventar Portfolio 12, Nr. 10; Cornelia Röver-van der Dussen (1689-1762); 1761 über Hendrik de Leth (1696-1766), Amsterdam verkauft an Johann Goll van Franckenstein I (1722-1785), Amsterdam (L. 2987); Johan Goll van Franckenstein II (1756-1821), Amsterdam (L. 2987); Georg Ernst Harzen (1790-1863) (NH Ad:01:02, fol. 11: "Willem van Buytenwech Zwey Frauenzimmer mit Spitze klöppeln und Stricken beschäftigt vor dem flammenden Camin in der mit vielem Hausrath erfüllten Kammer eines wohlfähigen bürgerlichen Haushaltung. bez buitewech fecit Anno 1617. 23. geistreiche und vollendete Zeichnung in Feder u Seppia 10.10/8.0. Hauptblatt. Samml Goll. v. Fr."; NH Ad: 02: 01, S. 246); Legat Harzen 1863 an die „Städtische Gallerie“ Hamburg; 1868 der Stadt übereignet für die 1869 eröffnete Kunsthalle

Bibliographie

Michael Bischoff: Weltvermesser. Das Goldene Zeitalter der Kartographie, Ausst.-Kat. Weserrenaissance-Museum Schloss Brake, Lemgo 2015, Abb.S. 160

Annemarie Stefes, Leonore van Sloten, Leonoor van Oosterzee: Tekenen in Rembrandts tijd. Meesterwerken uit de Hamburger Kunsthalle, Ausst.-Kat. Museum Het Rembrandthuis, Amsterdam 2012, S.121, Nr.19, Abb.S. 110

Mark Hengerer: Die verbrannten Katzen der Johannisnacht. Ein frühneuzeitlicher Brauch in Metz und Paris zwischen Feuer und Lärm, Konfessionskrieg und kreativer Chronistik, 2011, Abb.S. 119 (Detail)

Stefes, Annemarie: Niederländische Zeichnungen 1450-1850. Katalog I Van Aken-Murant, hrsg. von Gaßner, Hubertus und Stolzenburg, Andreas, Die Sammlungen der Hamburger Kunsthalle Kupferstichkabinett, Bd. 3, Böhlau Verlag Köln Weimar Wien 2011, S.156, Nr.188, Abb.Farbtafel S.26

Annemarie Stefes: Bruegel, Rembrandt & Co. Niederländische Zeichnungen 1450-1850, Hamburger Kunsthalle 2011, S.12-13, Abb.

Bangs, Jeremy Dupertius: Stranger and Pilgrims - Travellers and Sojourners, hrsg. von Leiden and the Foundations of Plymouth Plantation, 2009, Abb.S. 346

L'eta di Rembrandt. I disegni olandesi della Biblioteca Reale di Torino, Turin 2006

Jacek Tylicki: Rysunek gdanski ostatniej cwierci XVI i pierwszej potowy XVII wieku, Torn 2005, Abb.82

Vergnügliches Leben - Verborgene Lust. Holländische Gesellschaftsszenen von Frans Hals bis Jan Steen, hrsg. von Pieter Biesboer, Martina Sitt, Ausst.-Kat. Hamburger Kunsthalle u.a., Zwolle 2004

Het Nederlandse interieur in beeld 1600-1900, hrsg. von C. Willemijn Fock, Zwolle 2001, S.26, 28, 31, 42, 43, 45, 49, Abb.15

Petra Roettig, Annemarie Stefes, Andreas Stolzenburg: Von Dürer bis Goya. 100 Meisterzeichnungen aus dem Kupferstichkabinett der Hamburger Kunsthalle, Ausst.-Kat. Hamburger Kunsthalle 2001, S.86-87, Nr.38 mit Abb.

The Glory of the Golden Age. Dutch Art of the 17th Century. Drawings and Prints, Ausst.-Kat. Rijksmuseum, Amsterdam 2000, S.54, Nr.37

Rembrandt und sein Jahrhundert, Ausst.-Kat. Hamburger Kunsthalle 1994, Nr.24, Abb.S. 36

Dawn of the Golden Age, Ausst.-Kat. Rijksmuseum, Amsterdam 1993-94, S.624-625, bei Nr. 296

Reinhart Schleier: Die holländische Kunst des 17. Jahrhunderts, in: Funkkolleg Kunst, hrsg. von Werner Busch, München 1987, S. 678-702, S.681-682, Abb.129

Bärbel Hedinger: Karten in Bildern. Zur Ikonographie der Wandkarte in holländischen Interieurgemälden des 17. Jahrhunderts, Bd. 34, Hildesheim, Zürich 1986, S.23-24, Abb.8

Willem Buytewech 1591-1634, Ausst.-Kat. Museum Boymans-van Beuningen, Rotterdam 1974, S.XII, XIX, 30-31, Nr.31, Abb.57

Juri Kuznetsov: Capolavori fiamminghi e olandesi, Mailand 1970, S.85, Abb.XXXI

Wolf Stubbe: in: Das große Buch der Graphik, 1968, , S.278, Abb.S. 277

Hundert Meisterzeichnungen aus der Hamburger Kunsthalle 1500-1800, Bd. 5, Ausst.-Kat. Hamburger Kunsthalle 1967, S.38, Nr.63, Abb.61

Holländische Zeichnungen der Rembrandt-Zeit, ausgewählt aus öffentlichen und privaten Sammlungen in den Niederlanden, Ausst.-Kat. Hamburger Kunsthalle 1961, Nr.17

Dessins Hollandais du Siècle d'Or. Choix de Dessins provenant de Collections publiques et particulières Néerlandaises, Ausst.-Kat. Brüssel, Bibliothèque Albert Ier 1961, Nr.17

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10

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Charles de Tolnay: History and Technique of Old Master Drawings, New York 1943, S.137, Abb.190

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Egbert Haverkamp Begemann: Willem Buytewech, Amsterdam 1959, S.32, 51-52, 106-107, Nr.37

Mària van Berge-Gerbaud: Willem Pietersz. Buytewech, in: The Dictionary of Art, hrsg. von Jane Turner, Bd. 5, London 1996, , S.324, Abb.1

Georg Poensgen: Beiträge zur Kunst des Willem Buytewech, in: Jahrbuch der Preussischen Kunstsammlungen 47, 1926, , S.101

Frits Lugt: Rezension zu Pauli 1924, in: Onze Kunst 41, 1925, Nr. 22, S. 162-165, S.164

Wolfgang Wegner, Herbert Pée: Die Zeichnungen des David Vinckboons, in: Münchner Jahrbuch der Bildenden Kunst 31, 1980, S. 35-128, S.46, 100-101

Adolf Goldschmidt: Wilhelm Buyteweck, in: Jahrbuch der Königl. Preußischen Kunstsammlungen 23, 1902, S. 100-117, S.115-116, Abb.Lichtdruck nach S.100

Jan S. Kunstreich: Der "geistreiche Willem", Studien zu Willem Buytewech, Kiel, Univ., Diss. 1959, S.16, 18, 20, 38, 78, 104, Nr.76