Tommaso Minardi
Aktstudie eines jungen Mannes mit erhobenem rechten Arm und Holzstab in der nach unten ausgestreckten Linken. Das römische Modell Saverio, 1810 - 1812
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Tommaso Minardi

Aktstudie eines jungen Mannes mit erhobenem rechten Arm und Holzstab in der nach unten ausgestreckten Linken. Das römische Modell Saverio, 1810 - 1812

Tommaso Minardi

Aktstudie eines jungen Mannes mit erhobenem rechten Arm und Holzstab in der nach unten ausgestreckten Linken. Das römische Modell Saverio, 1810 - 1812

Der aus Faenza stammende Maler und zeichner Tommaso Minardi erhielt seine Ausbildung in Bologna und kurzzeitig in Mailand bei dem Kupferstecher Giuseppe Longhi, bevor er ab 1810 in Rom im Atelier des klassizistischen Malers Vincenzo Camuccini lernte. Minardi wurde von den deutschen Nazarenern um Friedrich Overbeck beeinflusst und gilt als Begründer des ebenfalls religiös motivierten Purismus in Italien, dessen Ausbildung er zwischen 1810 und 1815 vorrangig bestimmte. Ab 1819 lebte er in Perugia, wo er an der Accademia di Belle Arti als Professor für Zeichnung lehrte. 1822 kam er in derselben Funktion durch Verwendung des Bildhauers Antonio Canova an die Accademia di San Luca in Rom, wo er fortan für 30 Jahre lehrte und eine große Schülerschar ausbildete und prägte. Minardi, Overbeck, der Bildhauer Pietro Tenerani und der Kunstschriftsteller Antonio Bianchini veröffentlichten 1843 gemeinsam die kunsttheoretische Grundlage des Purismus unter dem Titel "Del purismo nelle arti".
Diese ungewöhnlich großformatige Aktstudie zeigt ein namentlich bekanntes männliches, nicht professionelles Modell. Der Römer Saverio (auch Xaverio oder Safferio geschrieben), so der Name des jungen Mannes aus armen Verhältnissen, aber gutem Charakter, stand ab 1810 in Rom einer ganzen Reihe von Künstlern für Aktstudien in verschiedenen Posen Modell.
Viele italienische Künstler der Zeit wie Francesco Hayez (1791-1871), Pelagio Pelagi (1775-1860) und Prospero Minghetti (1786-1853) zeichneten solche Aktstudien nach jungen ephebischen Männern, die mit ihren Körpern und den eingenommenen Posen Skulpturen der Antike nachahmten. (Anm. 1)
Auch bei den deutschen Künstlern aus dem Kreis der Nazarener um Johann Friedrich Overbeck war Saverio bekannt und aufgrund seines perfekten jugendlichen männlichen Körpers als Modell höchst beliebt. So zeichnete ihn auch Joseph Wintergerst (1783-1867) und Overbeck selbst nahm ihn als Modell für die Figur Hl. Johannes des Täufers auf seinem 1815 vollendeten Gemälde „Christus bei Maria und Martha“ (Anm. 2).
Franz Pforr (1788-1812), von dem es ebenfalls eine 1810/11 entstandene, dem Blatt Tommaso Minardis erstaunlich verwandte Aktzeichnung des zu dieser Zeit wohl ca. dreizehnjährigen Saverio gibt (Anm. 3), erwähnt die freundschaftliche und fürsorgliche Nähe zu disem ausführlich in einem Brief an Johann David Passavant in Frankfurt: „Da kenne ich einen jungen Knaben, einen Römer von niedriger Herkunft und armen Eltern, mit dem verplaudere ich gern eine Stunde; er hat alle Vorzüge unverdorben, die der herrliche Himmelsstrich hervorbringt, eine besondere Körperschönheit (ich habe ihn als Modell kennengelernt), ein Gesicht wie ein Engel und eine Anmut, die nicht zu beschreiben ist in allen Bewegungen und Reden, dabei Gutmütigkeit, Bescheidenheit und eine Delikatesse, die man nicht bei seinem Stande suchen sollte. Es tut mir innerlich weh, wenn ich denke, daß so ein Meisterstück der Schöpfung so leicht verdorben werden kann und es in seiner Umgebung wohl werden wird über lang oder kurz. Wenn ich reich wäre, so müßte dieser Knabe mein sein, und Overbeck meint auch, der stäte Umgang mit ihm würde eine bessere Wirkung auf mich machen als alle Arznei, das Blut zu verdünnen und alle Moralpredigten, den Umgang zu lieben. Ich wende alles an ihn, ihn womöglich auf gutem Weg zu erhalten, und nichts tut bei Italienern mehr als die Religion; deswegen bin ich bei ihm recht katholisch, um das Recht zu haben, Dinge zu sagen, die, wüßte er mich als Protestant, er nicht, aus angeborenen [sic] Vorurteil, annehmen würde, und so lasse ich ihm die Freude, auf seine Art mir dankbar sich zu zeigen, zum Beispiel er erkundigte sich sehr genau, ob meine Eltern noch lebten und ob ich verstorbene Geschwister hätte; als ich ihn um die Ursache fragte, sagte er, er wolle nächsten Sonntag für das Heil ihrer Seelen drei Messen hören, für jede eine, das ließ ich nun gerne zu. Ich bewundere oft an ihm, was die Natur tut, sein Vater und Mutter und Geschwister sind ein abscheuliches Volk, von welchen er gewiß keine kindliche Zärtlichkeit gelernt haben kann, und doch besitzt er diese in so vollem Maß, daß wenn bei Erzählungen vorkommt, wie ein Sohn undankbar gegen seinen Vater ist, er sich nicht enthalten kann, in Tränen auszubrechen. Durch ihn habe ich seit drei Monaten so viel Italienisch gelernt, daß ich mich zur Not durchhelfe, mit ihm aber fast ohne Anstoß spreche oder viel mehr verständlich machen kann.“ (Anm. 4)
Overbeck erwähnt Saverio noch im November 1815 in einem Brief an Ludwig Vogel, der den Jungen ebenfalls (als Amor) zeichnete (Anm. 5): „[Ich studiere] meistens nach Saverio, der noch immer, wiewohl ganz verändert, wunderschön ist; noch heute Morgen war er da und hat eine sehr schöne Stellung gemacht, an denen er gleichsam unerschöpflich ist, denn jede Bewegung ist bei ihm schön und doch lebendig.“ (Anm. 6)
Ob Minardi, der engen Kontakt zu Overbeck hatte, die Aktstudie Saverios in Gesellschaft der nazarenischen Künstler gezeichnet hat, muss offen bleiben. Doch erscheint im Vergleich des Blattes mit demjenigen Pforrs in Schweinfurt und der zitierten Beschreibung der physiognomischen Veränderung von dessen Ausstehen in Overbecks Brief von 1815 die Übereinstimmung der Gesichtszüge doch für annähernd dasselbe Alter zu sprechen, so dass Minardis Zeichnung mit großer Wahrscheinlichkeit 1810/11 zu datieren ist.
Tommaso Minradi zeigt das Aktmodell stehend und leicht von der Seite gesehen. Das rechte Bein ist als Spielbein zurückgestellt, der rechte Arm über den Kopf erhoben, die Hand darauf abgestützt. Der linke Arm hängt am Körper herab und hält einen nicht vollständig zeichnerisch durchgeführten Holzstab, der wie eine gesenkte Fackel wirkt. Saverio blickt sein Gegenüber mit seinen lieblichen und freundlich wirkenden Zügen unverwandt an. Eine großflächige Schraffur hinter der Figur verleiht der Zeichnung eine vibrierende Lebendigkeit. Die Haltung des Modells erinnert dabei an die überlieferte antike Skulptur des Apollon Lykeios, dessen Lyra hier jedoch durch den Stab bzw. die zu erahnende gesenkte Fackel ersetzt wurde, die Saverio hier als eine Art Genius des Todes erscheinen lässt. (Anm. 7) In der Galerie Appolloni in Rom befand sich 1981 ein von Minardi gezeichneter großer Karton eines geflügelten Genius, der der vorliegenden Zeichnung kompositorisch eng verwandt ist (Anm. 8) und der durch den Genius des Todes am Grabmal für Clemens XIII in St. Peter von Antonio Canova (1757-1822) angeregt zu sein scheint. (Anm. 9)

Andreas Stolzenburg

1 Figure humaine et architecture. Dessins du XVIIe siècle, Rom, Galleria Carlo Virgilio, Rom 2017, S. 38 (Beitrag Giovanna Capitelli). Vgl. Prospero Minghetti 1786-1853. Nel laboratorio di un artista neoclassico, Ausst.-Kat. Reggio Emilia, Musei Civici di Reggio Emilia, sala Esposizioni dell`Antico Foro Boario, Reggio Emilia 1993, S. 75-78; Nr. 48-57. Zu pelagi allgemein vgl. Pelagio Pelagi pittore. Dipinti dalle raccolte del Comune di Bologna, hrsg. v. Claudio Poppi, Ausst.-Kat. Bologna, Museo Civico Archeologico, Mailand 1996.
2 Johann Friedrich Overbeck 1789-1869. Zur zweihundertsten Wiederkehr seines Geburtstages, hrsg. v. Andrea Blühm und Gerhard Gerkens, Ausst.-Kat. Museum für Kunst und Kulturgeschichte der Hansestadt Lübeck – Behnhaus, Lübeck 1989, S. 124-125, Abb. – Saverio steht dort im Hintergrund als Johannes neben Jakobus (mit dem Antlitz Raffaels) und Petrus (mit dem Gesichtszügen Michelangelos).
3 Deutsche Romantik. Aquarelle und Zeichnungen. Museum Georg Schäfer, Schweinfurt. Ausst.-Kat. Schweinfurt, Museum Georg Schäfer, München, London, New York 2000, S. 162-163, Abb. (Beitrag Jens Christian Jensen).
4 Brief Pforrs an Passavant v. 7. 7. 1811, Frankfurt, Stadt- und Universitätsbiblioithek, Nachlass J. D. Passavant; http://www.bela1996.de/art/pforr/pforr-02.html#38 (letzter Aufruf: 2. 6. 2017).
5 Vgl. Ausst.-Kat. Schweinfurt 2000, S. 162, Abb. 2.
6 Brief v. 10. 11. 1815; zit. Nach Margret Howit: Friedrich Overbeck. Sein Leben und sein Schaffen. Nach seinen Briefen und anderen Dokumenten des handschriftlichen Nachlasses, hrsg. v. Franz Binder, Freiburg im Breisgau 1886, Bd. I, S. 319, Anm. 1.
7 Vgl. Disegni di Tommaso Minardi (1787-1871), Ausst.-Kat. Rom, Galleria Nazionale d`Arte Moderna, Rom 1982, S. 119-120, Nr. 1 (Beitrag Stefano Susinno). Vgl. eine zweite Aktzeichnung Minardis, die recht sicher ebenfalls Saverio liegend zeigt; ebd., S. 175-176, Nr. 47 (Beitrag Stefano Susinno); vgl. auch S. 312, Nr. 157.32.
8 Antonella Pampalone: La Mano italiana : disegni di tre secoli Ausst.-Kat. Rom,. Galleria W. Appoloni, Rom 1981, Taf. XXXIX.
9 Vgl. Stefano Susinno, in: Ausst.-Kat. Rom 1982, S. 120.

Details zu diesem Werk

Beschriftung

Unten rechts von fremder Hand bezeichnet: "T. Minardi" (Bleistift); unterhalb davon rechts bezeichnet: "Tommaso Minardi / 1787-1871" (Bleisstift)

Provenienz

Rom, Galleria Pereira; Rom, Privatbesitz; erworben 2017 von der Galleria Carlo Virgilio, Rom mit Mitteln...

Bibliographie

Figure humaine et architecture. Dessins du XVIIe au XXe siècle, hrsg. von Stefano Grandesso, Carlo Virglio, Ausst.-Kat. Rom, Galleria Carlo Virgilio 2017, S.38-39, Nr.16, Abb, Abb.88 (Detail)

Liliana Barroero: La "naturale" nobilità e bellezza del popolo romano, in: Maestà di Roma da Napoleone all`Unità d`Italia Mailand 2003, , S.207-209

Stefano Susinno, Maria Antonietta Scarpati: Disegni di Tommaso Minardi (1787-1871), Bd. I, Ausst.-Kat. Rom, Galleria Nazionale d`Arte Moderna, Rom 1982, S.119-120, Nr.1, Abb.

Laura Capon Piperno: Disegni giovanili di Tommaso Minardi, in: Quaderni sul neoclassico 1978, Nr. 4, S. 174-194

Giuseppe Gioacchino Belli: Lettere a Cencia, hrsg. von Muzio Mazzocchi Alemanni, Bd. 1, Rom 1973, Abb.47