Philipp Otto Runge
Raumkonstruktion (Studie zur "Heimkehr der Söhne"), 1800
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Philipp Otto Runge

Raumkonstruktion (Studie zur "Heimkehr der Söhne"), 1800

Philipp Otto Runge

Raumkonstruktion (Studie zur "Heimkehr der Söhne"), 1800

Knapp zwei Monate nach seiner Ankunft in Kopenhagen, kurz vor Weihnachten 1799, schrieb Runge an seinen Vater, dass er plane, den Saal im Wolgaster Haus seines Bruders Jakob auszumalen: „Ich werde gegen Frühjahr wohl schwerlich so weit kommen, daß ich mein Versprechen halten könnte, Jacob’s Saal auszumahlen; ich habe aber recht viele Gedanken darüber. Es wird keinem so leicht eine solche Arbeit angeboten, worin er einen so freyen Willen, und eine so schöne Gelegenheit, ihn auszuführen, hätte, darum möchte ich das so ungerne fahren lassen.“ (Anm. 1) Offensichtlich trug sich Runge schon länger mit dem Gedanken, „auf die große leere Wand unsere Familie zu mahlen“ (Anm. 2) – darauf deutet zumindest die Formulierung, dass Runge das „Versprechen“ dazu gegeben hatte. Äußerungen am 31. Dezember 1799 und am 6. März 1800 Daniel gegenüber (Anm. 3) über den Fortgang der Arbeiten klingen weniger optimistisch als es Traeger Glauben machen möchte, doch am 14. Mai 1800 berichtet Runge, dass er mit den Entwürfen zur „Composition bald zu Ende“ ist, die er den Professoren zur Begutachtung vorlegen wolle (Anm. 4), und fährt fort: „Wegen des Familienstück ist’s recht mein Ernst, nur sehe ich die Ausführung noch nicht recht ein, aber mein Freund Böhndel, der bey Juel mahlt und ein Schüler von dem alten Wiederwelt ist, wird mich mit letzterem bekannt machen und ich habe doch die Hoffnung, damit zu Stand zu kommen. Es wird 12 Fuß lang und 7 hoch, dann behalte ich noch 3 Fuß auf jeder Seite Platz; wie der und die übrigen Wände verziert werden sollen, darüber will ich jetzt noch nichts laut werden lassen.“ (Anm. 5) Mitte Juni waren „diverse Skizzen“ dazu fertig (Anm. 6), und am 23. August berichtete Runge Goethe von einigen Kompositionen, die als Zimmerverzierungen für seinen Bruder gedacht seien, und „erst in schwarz und weißer Kreide zu zeichnen und dann auszumahlen“ seien (Anm. 7). Ende August plante er, bei seiner Rückkehr nach Wolgast im Frühjahr, „alle unsre Bildnisse [zu] machen, die wie ich sie hernach zu dem Familienstück brauchen würde“, doch stehe es ihm „noch immer wie ein fernes Gebürge vor.“ (Anm. 8) Im Januar 1801 schließlich riet Juel, das Gemälde „lieber als Skizze in Oel zu mahlen; dies ist jedoch unterblieben“ (Anm. 9), wie auch die Ausführung als Wandgemälde (Anm. 10) ausblieb. Daniel bemängelte in der Rückschau denn auch, dass das Vorhaben „seinen damaligen Kräften, zumal in der Ausführung, ganz unangemessen“ (Anm. 11) gewesen sei, und die „ungebührliche Größe“; „sie hätten „als kleinere Cabinetstücke ohne Zweifel […] eine angenehmere Würkung gemacht.“ (Anm. 12)
Runge plante das Gemälde zunächst als Innenraumszene, wozu sich eine ausführliche, durch Daniel überlieferte Beschreibung Runges (Anm. 13) und zwei Gesamtentwürfe erhalten haben, die weitgehend Runges Beschreibung entsprechen (Anm. 14). Zu dieser ersten Fassung gehört auch Inv. Nr. 1938-38, die die genaue Konstruktion des Innenraums mit dem Mobiliar zeigt, in den einige der beteiligten Personen als Aktfiguren hineingezeichnet sind. Runge hat erst die räumlichen Fragen geklärt, um in einem zweiten Schritt die Verteilung der Figuren im Innenraum zu klären, doch nimmt es darin nicht die räumlichen Angaben – wie Traeger meint - eines Gesamtentwurfs in ehemaligen Privatbesitz vorweg (Anm. 15), sondern bezieht sich eindeutig auf der ersten Entwurf in Berlin, der als Bilderschmuck im Zentrum den „Triumph Amors“ zeigt (Anm. 16). Das Heimkehrmotiv links, das von der Türöffnung eingefasst wird, die Begrüßungsszene rechts daneben und das Mädchen im Vordergrund, das eine Katze durch einen Reifen springen lassen will, verdeutlichen diesen Bezug (Anm. 17).
Bettina Baumgärtel hat darauf hingewiesen, dass das Heimkehrermotiv auf Angelika Kaufmanns Gemälde „Die Rückkehr des Telemach“ von 1777 zurückgeht, das Runge durch den Punktierstich William Wynne Rylands bekannt gewesen sein könnte (Anm. 18). Auf ihm umarmt ebenfalls am linken Rand der junge Telemach die von einer Treppe herabsteigende Penelope in ähnlicher Weise; es handelt sich dabei aber um keine Kopie, sondern eine eigenständige Anverwandlung, in der Runge die Figuren aus ihrem erzählerischen Kontext löste, sie in ein reales Ereignisbild übersetzte und ihnen portraithafte Züge gab.
Wie sehr es Runge dabei zunächst aber um die perspektivische Festlegung des Innenraums ging, belegt auch die Konstruktionszeichnung auf Inv. Nr. 1938-73 verso. Auf ihr zeichnete Runge neben den perspektivisch fluchtenden Bodenplatten die Horizontlinie und den Fluchtpunkt genau ein. Das Zimmer ist als Kastenraum angelegt, in den Runge die beteiligten Personengruppen als Aktfiguren im Kontur eingezeichnet hat (Anm. 19). Die Figurengruppe mit der Mutter und Mienchen entspricht der ehemals in Privatbesitz befindlichen Fassung (Anm. 20), doch sind die Figuren im Gegensinne angeordnet. Offensichtlich plante Runge, die Komposition in umgekehrter Abfolge auszuführen, so dass die Heimkehrer von rechts das Zimmer betreten hätten.
Orientierte sich Runge in den Interieurszenen nicht nur in der Adaption von Motiven Angelikas Kaufmanns sondern auch in der friesartigen Komposition und der ausdrucksstarken Gebärden noch am Klassizismus, so markieren die Außenraumszenen einen freieren Umgang mit Komposition und Sujet, der den Übergang vom Klassizismus zur Romantik andeutet. Zwei Entwürfe zu den Außenraumszenen haben sich erhalten, die durch ähnliche Darstellungen Juels und Tischbeins angeregt sind. Tischbeins Rückkehrszene in der Albertina (Anm. 21) zeigt nicht nur motivische Ähnlichkeiten, sondern auch stilistische Parallelen mit Runges Entwurf in Stuttgart (Anm. 22), der Traeger zufolge wohl im Herbst 1800 entstanden ist. Danach ist der Hamburger Entwurf (Inv. Nr. 34128) entstanden, den Daniel ausführlich beschrieben hat: „Getuschte Skizze. 1800 in Kopenhagen. […] Die Zeichnung stellt den Eintritt des ältesten Sohnes, und des Künstlers, aus der Fremde zu einem Besuch dar. Die Scene ist in dem Garten des Vaters vor dem niedrigen, mit Brettern gedeckten Gartenhause, in welchem die Thür und ein Fenster offen stehen. Rechts und links steht ein Baum; rechts meist nach der Mitte hin ein Theetisch. Links, hievon der älteste Sohn in den Umarmungen des Vaters und der Mutter; weiter links davon legt die älteste Schwester die eine Hand auf des Vater Schulter und streckt die andre nach dem Bruder Karl aus, welcher dort unter dem Baum stehend den ankommenden Bruder Otto, dem der Reisemantel vom Rücken sinkt, auf das innigste umfasst. Rechts im Bilde hebt sich der Bruder David in die Höhe hinter einer sitzenden, auf der Guitarre spielenden Frau; von da an weiter links hin sind mehrere ältere und jüngste weibliche Familienmitglieder (es war außer der zweyten Schwester in Mecklenburg noch keines der Geschwister verheirathet oder mit Kindern gesegnet, daher die Fictionen unterlaufen) und der Bruder Jacob theils an der Erde im Blumenkramen und mit Schattenrissen, die an die Wand gehängt werden sollen, beschäftigt, jedoch alle zu dem von den Eltern umarmten Bruder freudig aufblickend, dem auch der Bruder Gustav zueilt.“ (Anm. 23)
Runges Bruder Joachim David legt den Arm auf die Schulter der vor ihm Gitarre spielenden, von Daniel unbenannten Frau, die Traeger zu Recht als Davids Braut identifiziert. Er schließt auch aus Analogien zur ersten Fassung, dass es sich bei der davor knienden Frau und dem Mädchen mit dem Schattenriss um Runges Schwester Ilsabe Dorothea Helwig und ihre Tochter Christine handelt. Links daneben kniet Jacob mit seiner Braut Frederike Petersen und Lottchen (Anm. 24); bei den beiden Mädchen hinter dem Tisch dürfte es sich dagegen nicht um Runges Schwester Maria Elisabeth und seine Nichte Wilhelmine Helwig handeln; Maria Elisabeth erscheint nach Stolzenburgs Beobachtungen links neben dem Vater, während es sich bei der hinter dem Tisch stehenden Frau um Christine Helwig und der der am Tisch sitzenden um Christine Helwig handelt (Anm. 25).
Über einzelne motivische Anregungen wie etwa das Begrüßungsmotiv, das von Chodowiecki angeregt ist(Anm. 26), hat Traeger darüber hinausgehend für die überlängten Proportionen der Figuren auf den Einfluß von Runges Lehrer Abilgaard hingewiesen (Anm. 27), auf den auch die prononcierte Lichtregie mit dem abgedunkelten Vordergrundbereich, der mit dem lichterfüllten Mittelgrund kontrastiert, zurückgehen dürfte (Anm. 28). Die Lichtwirkung, die bereits die spätere Tendenz, dem Licht einen von den Gegenständen abgelösten Eigenwert zuzuweisen, in sich trägt, führt in der Kombination von malerischer Pinsel- und konturierender Federzeichnung aber zu einer insgesamt verfestigten Bildstruktur und im Gegensatz zur friesartigen Geschlossenheit auf dem Stuttgarter Blatt zu einer tendenziellen Gruppenbildung. Sie wird im Verhältnis zum Umraum durch die Übergröße der Figuren noch gesteigert und verleiht der Szene einen bühnenartigen Charakter. Deutlich ist ein von Pathosformeln nicht freies Streben nach Monumentalität, mit der Runge eine „intime und oft leicht anekdotische Bildgattung“ (Anm. 29) in den Rang der Portraitkunst erhebt.

Peter Prange

1 Brief vom 10. Dezember 1799 an den Vater Daniel Nikolaus Runge, vgl. HS I, S. 363.
2 Brief vom 14. Mai 1800 an Daniel, vgl. HS I, S. 363.
3 Vgl. HS II, S. 38 und S. 46.
4 Vgl. HS I, S. 363.
5 Vgl. HS I, S. 363.
6 Karl Friedrich Degner (Hg.): Philipp Otto Runge. Briefe in der Urfassung, Berlin 1940, S. 47.
7 Hellmuth Freiherr von Maltzahn: Runges erster Brief an Goethe, in: Festschrift für Albert Leitzmann, herausgegeben von Ernst Vincent und Karl Wesle, Jena 1937, S. 101.
8 Brief vom 30. August 1800 an den Vater Daniel Nikolaus Runge, vgl. HS II, S. 55.
9 Vgl. HS I, S. 363.
10 Allgemein wird davon ausgegangen, dass Runge das Wandgemälde als Fresko ausführen wollte, doch muss fraglich bleiben, ob er dazu technisch fähig war. Zu diesem Zeitpunkt sind keine Berichte bekannt, die Runges Vertrautheit mit der damals in Norddeutschland ungewöhnlichen Technik belegen, weshalb eher ein großformatiges Leinwandgemälde in Frage kommt.
11 Vgl. HS I, S. 362.
12 Vgl. HS I, S. 364.
13 Brief vom 13. Juni 1800 an den Bruder Karl, vgl. Degner 1940, S. 47-48.
14 Entgegen Isermeyer 1940, S. 126, und Berefelt 1961, S. 127, bezieht Traeger 1975, S. 286-287, Nr. 117, Daniels Beschreibung auf einen verschollenen „Zwischenentwurf“.
15 Die Heimkehr der Söhne, lavierte Federzeichnung, Maße und Standort unbekannt, vgl. Traeger 1975, S. 287, Nr. 118, Abb.
16 Die Heimkehr der Söhne, Bleistift, Feder und Pinsel in Grau, 240 x 406 mm, Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett, SZ 23, vgl. Traeger 1975, S. 286, Nr. 114, Abb.
17 Berefelt 1961, S. 131, sieht das Motiv wie auch allgemein das Sujet von ähnlichen Darstellungen Hardorffs beeinflußt, vgl. dessen Familienbildnis, Feder in Braun, 230 x 315 mm, Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett, Inv. Nr. 42961.
18 Bettina Baumgärtel: Lasset die Kindlein zu mir kommen. Anglika Kauffmann und Philipp Otto Runge., in: Wallraf-Richartz-Jahrbuch 2009, S. 196, Abb. 2.
19 Schubert 2013, S. 139, hat darauf hingewiesen, dass Runge damit die Arbeitsweise von Historienmalern adaptierte, „da er das Bild wie einen perspektivischen Bühnenraum vorbereitet, in dem er das Figurenpersonal, das in seinen Bewegungen zuvor genau nach dem nackten Modell studiert wurde, anschließend platzierte.“
20 Traeger 1975, Nr. 118.
21 Ehemals Johann Friedrich August Tischbein zugeschrieben, Rückkehrszene, schwarze Kreide, Pinsel in Grau, 193 x 196 mm, Wien, Albertina, Inv. Nr. 24439, vgl. Runge 1977, S. 152, und Mildenberger 1986, S. 39.
22 Die Heimkehr der Söhne, Bleistift, Pinsel in Grau, 348 x 475 mm, Staatsgalerie Stuttgart, Graphische Sammlung, Inv. Nr. 23, vgl. Traeger 1975, S. 287, Nr. 119, Abb.
23 Vgl. HS I, S. 363-364.
24 Mit „Lottchen“ ist Wilhelmine Charlotte Christiane Schilling gemeint, Halbschwester des Buchhändlers Friedrich Perthes und seit 1802 Ehefrau Johann Heinrich Bessers, vgl. Stolzenburg 2012, S. 157, Anm. 40.
25 Stolzenburg 2012, S. 153.
26 Vgl. etwa Chodowieckis Kupferstich für Carl Langs „Almanach“ von 1796 „Glück der Liebe“, vgl. Feist 1979, S. 18.
27 Traeger 1975, S. 28.
28 Bertsch 2009, S. 25.
29 Berefelt 1961, S. 132.


verso:
Im Auktionskatalog 1938 wurde Inv. Nr. 1938-38 verso ungenau als „stehender Akt“ bezeichnet und von Berefelt falsch als „Diskuswerfer“ (vgl. Inv. Nr. 1938-69) identifziert; erst Trager hat das Vorbild korrekt in dem heute in den Uffizien in Florenz befindlichen „Satyr mit der Fußklapper“ erkannt, der auch als „Tanzender Satyr“ oder „Satyr Medici“ bekannt ist (Anm. 1). Auch von Hardorff sind zwei Studien nach dem Satyr bekannt, die in dessen Dresdner Zeit entstanden sind (Anm. 2).
Runge hat nach der Statue, deren Abguss zum ältesten Bestand der Kopenhagener Gipssammlung gehört (Anm. 3), mehrmals in Zeichnungen festgehalten. Die Statue des tanzenden und musizierenden Satyrs weist in seiner ausponderierten Körperhaltung, die in einer Drehung verharrt, ein ausgeprägtes Muskelspiel auf, das Runge geeignet erschien, anatomische Details unter verschiedenen Blickwinkeln zu studieren. Runge hatte bereits in Hamburg mit Anatomiestudien begonnen, als er einige Blätter nach Andreas Vesalius und anderen Vorlagen kopierte (Anm. 4). Runges Erwartung, sich in diesem Fache schnell und gründlich weiterbilden zu können, wurde von den Professoren in Kopenhagen allerdings enttäuscht: „Wenn ich dann Courage kriege und frage, ob sie meynen, dass ich nach ganzen Figuren etwas skizziren, oder Abends zu Hause Perspektiv treiben soll, oder die Anatomie Usw. usw., so heißt es gleich: ‚Ja, das ist noch zu früh; fahren Sie nur fort, nach meinen Zeichnungen können Sie zeichnen – und dann die Perspektiv? Das brauchen Sie nicht, und die Anatomie? Wenn Sie das nur bisweilen ansehen, Sie verlieren nur Zeit damit.‘ – Nun sage mir um Gottes willen, was soll ich denn weiter mit den Männern sprechen?“ (Anm. 5) Wenig später, mit Erreichen der Gipsklasse am 6. Januar 1800 (Anm. 6), hat Runge erst die Unterweisungen in Anatomie und Vorlesungen bei Michael Skjelderup besucht (Anm. 7), und hatte im Februar von Juel Bernardino Gengas „Anatomie“ nach Zeichnungen Errards erhalten (Anm. 8), nach denen Runge mehrmals kopierte (vgl. Inv. Nr. 1938-101).
Die dabei gewonnene Fähigkeit zur weitgehenden Reduktion auf den Umriss erprobte Runge danach auch im Gipssaal. Es existieren zwei Gesamtansichten von der Statue des tanzenden Satyrs in Hamburg (Inv. Nr. 1838-38 verso) und in Privatbesitz (Anm. 9), die Runge als Kreidezeichnungen mit Weißhöhungen ausgeführt hat. Seine anfängliche Opposition gegen die an der Akademie gepflegte Zeichentechnik der spitzen Kreiden und die Verwendung des bräunlichen Papiers, auf dem sich die Plastizität durch Weißhöhungen effektvoll steigern ließ (Anm. 10), hatte er da schon aufgegeben. So ähnelt Runges Zeichnung besonders in der Verwendung des Tonpapiers, aber auch in der Verteilung von Licht und Schatten sowie in den modellierenden Weißhöhungen der Zeichnung eines anonymen Schülers, das in der Klasse Lorentzens entstand (Anm. 11).
Zudem bewahrt das Kupferstichkabinett vier beidseitig benutzte Blätter, auf denen sich insgesamt acht als Kreide- und Federzeichnungen ausgeführte Studien nur vom Torso befinden, die im direkten zeitlichen Zusammenhang mit den Zeichnungen nach Errard entstanden sind. Sie verdeutlichen Runges Interesse, einen Körper aus verschiedenen, dabei manchmal nur geringfügig voneinander abweichenden Blickwinkeln dazustellen, aber auch, sich dem Gegenstand in verschiedenen Techniken und Zeichenweisen zu nähern. Es hat dabei den Anschein, dass Runge im Laufe der Auseinandersetzung mit dem Torso die zeichnerischen Mittel bewusst soweit reduziert, bis er eine auf den Umriss beschränkte Ansicht erreicht.
Inv. Nr. 1938-50 verso, Inv. Nr. 1938-51 recto und verso zeigen die Vorderansicht des Torsos jeweils aus dem gleichen Blickwinkel von rechts oben. Die Studie auf Inv. Nr. 1938-51 verso zeigt den reichsten Einsatz der zeichnerischen Mittel; Parallelschraffuren und schattierte Zonen arbeiten das plastische Körperrelief heraus, das auf Inv. Nr. 1938-50 verso als reine Kreidezeichnung bereits auf den Umriss reduziert wird – ein Effekt, der auf Inv. Nr. 1938-51 recto durch den Einsatz der Feder noch verstärkt wird. Zu Recht hat Schubert deshalb auf die zeitliche Nähe zur Kopie nach Errards „Herkules Farnese“ hingewiesen (Anm. 12). Ähnliches lässt sich auch bei vier im Blickwinkel leicht voneinander abweichenden Ansichten der linken Seite des Torsos beobachten, wo Runge durch mehrere, sich auch überlagernde Strichlagen den Umriss festzulegen versucht (Inv. Nr. 1938-52 verso), der auf Inv. Nr. 1938-52 recto und Inv. Nr. 1938-53 verso durch die Binnenzeichnung plastisch akzentuiert wird, um auf Inv. Nr. 1938-50 recto wieder auf den Umriss reduziert zu werden. In den Umrisszeichnungen näherte sich Runge dem Modus der Anatomiezeichnung (Anm. 13), die der Linearität des Kupferstichs nahekommt, diesen in der kraft- und spannungsvollen Plastizität der Linie aber übertrifft (Anm. 14). Am 25. März hatte Runge gegenüber Daniel angekündigt, er werde sich lange im „Contourenzeichnen“ üben, bis der Gipssaal öffnet, wo er dann nach den Antiken selbst zeichnen wolle (Anm. 15). Es ist anzunehmen, dass die Zeichnungen nach dem tanzenden Satyrn unmittelbar nach Öffnung des Antikensaals unter dem Einfluss der Beschäftigung mit Tischbeins Vasenwerk entstanden (vgl. Inv. Nr. 1938-140 und Inv. Nr. 1938-141).
1 Tanzender Satyr, Marmor, Florenz, Uffizien, Inv. Nr. 220, vgl. Francis Haskell/Nicolas Penny: Taste and the Antique. The Lure of classical Sculpture 1500-1900, New Haven-London 1981, S. 205-208, Nr. 34, Abb.
2 Gerdt Hardorff, Satyr mit der Fußklapper (recto und verso), schwarze Kreide, weiß gehöht, auf blauem Papier, 424 x 343 mm, Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett, Inv. Nr. 42972, vgl. Cornelia Vagt: Gerdt Hardorff d. Ä. und sein Werk. Monographie und Katalog, Diss. Univ. Kiel 1984, S. 285, Nr. 279.
3 Der Abguss befand sich seit 1750 in der Abgusssammlung, vgl. Jan Zahle: Antiksalen, Figursalen, Museet, in: Spejlinger i gips, Udstilling på Det Kongelige Danske Kunstakademi, Billedkunstskolerne og Danmarks Kunstbibliotek, Sammlingen af Arkitekturtegninger, Kopenhagen 2004, S. 194, Nr. S 20.
4 Vgl. Traeger 1975, S. 268-270, Nr. 86 a-l, Abb.
5 Brief vom 31. Dezember 1799 an Daniel, vgl. HS II, S. 37.
6 Am 6. Januar 1800 war Runge in der zweiten Freihandzeichenklasse bei Informator Carl David Probshayn zur Gipsschule „avanciert“, vgl. Schubert 2013, S. 132.
7 Schubert 2013, S. 135.
8 Brief vom 21. Februar 1800 an Daniel, vgl. HS II, S. 43.
9 Zwei Studien nach dem Satyr mit der Fußklapper, schwarze und weiße Kreide auf blauem Papier, 400 x 280 mm, vgl. Traeger 1975, S. 317, Nr. 213.
10 Brief vom 7. November 1799 an Daniel, vgl. HS II, S. 29.
11 Anonym, Medici Faun, schwarze und weiße Kreide auf Tonpapier, 548 x 295 mm, Danmarks Kunstbibliotek, modeltegning 460, vgl. Karin Kryger: Tegninger efter afstøbninger, in: Spejlinger i gips, Udstilling på Det Kongelige Danske Kunstakademi, Billedkunstskolerne og Danmarks Kunstbibliotek, Sammlingen af Arkitekturtegninger, Kopenhagen 2004, S. 230, Nr. 40, Abb.
12 Schubert 2013, S. 138.
13 Schubert 2013, S. 137.
14 Bereits Traeger 1975, S. 146, hat auf die der Linie innewohnende Energie bei Runges Umrisszeichnungen und ihre Körperlichkeit hingewiesen.
15 Vgl. HS II, S. 49.

Details zu diesem Werk

Beschriftung

Unten rechts von der Hand Daniel Runges bezeichnet und datiert: "Original von Philipp Otto Runge 1800" (Feder in Schwarz); auf dem Verso unten rechts nummeriert: "N.o 84" (Bleistift)

Verso

Titel verso: Satyr mit der Fußklapper (Studie nach einem Gipsabguss)

Technik verso: Schwarze und weiße Kreide

Provenienz

Nachlass des Künstlers; ab 1810 im Besitz des Bruders Johann Daniel Runge (1767-1856), Hamburg; nach dessen Tod am 12. 3. 1856 im Besitz der Witwe Philipp Otto Runges, Pauline Runge (1785-1881), geb. Bassenge; wohl als deren Geschenk an ihren Enkel Paul Runge (1835-1899), Berlin (Sohn des Otto Sigismund Runge (1806-1839); Philipp Otto Runge (1866-1925; Sohn des Vorigen), Berlin; Hans Runge (1900-?; Sohn des Vorigen), Berlin (bis 1938); erworben 1938 von C. G. Boerner, Leipzig

Bibliographie

Kosmos Runge. Der Morgen der Romantik. Katalogteil, hrsg. von Markus Bertsch, Uwe Fleckner, Jenns Howoldt, Andreas Stolzenburg, München 2010, S.86, 96, 384, Nr.55, Abb.

Jörg Traeger: Aus Philipp Otto Runges Anfängen als Maler. Eine frühe Fassung der "Ruhe auf der Flucht". Mit Bemerkungen zu Otto Sigismund Runge, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 55, 1992, Nr. 4, S. 463-482, S.477

Jens Christian Jensen: Philipp Otto Runge. Leben und Werk, Köln 1977, S.228

Jörg Traeger: Philipp Otto Runge und sein Werk. Monographie und kritischer Katalog, München 1975, S.28, 149, 153, 286, Nr.115, Abb.

Philipp Otto Runge: Hinterlassene Schriften, hrsg. von Daniel Runge, Bd. 2, Hamburg 1841 (Reprint: Göttingen 1965), S.506, 552

Gunnar Berefelt: Philipp Otto Runge zwischen Aufbruch und Opposition 1777-1802, Stockholm Studies in History of Art, Bd. 7, Stockholm 1961, S.126-127, 159, Anm. 5

Maltzahn, Hellmuth Freiherr von: Philipp Otto Runges Briefwechsel mit Johann Wolfgang von Goethe (Schriften der Goethe Gesellschaft, 51), Weimar 1940, S.108

Christian Adolf Isermeyer: Philipp Otto Runge, Die Kunstbücher des Volkes, Bd. 32, Berlin 1940, S.126

Deutsche Handzeichnungen der Romantikerzeit. Deutsche Graphik des frühen XIX. Jahrhunderts. Deutsche Zeichnungen der zweiten Hälfte des XVI. Jahrhunderts, Auktion 199, 25. 5. 1938, C. G. Boerner, Leipzig 1938, S.12, Nr.100

Philipp Otto Runge: Hinterlassene Schriften, hrsg. von Daniel Runge, Bd. 1, Hamburg 1840 (Reprint: Göttingen 1965), S.361-362