Philipp Otto Runge
Maria, das Kind anbetend (Studie zur "Flucht nach Ägypten"), 1805
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Philipp Otto Runge

Maria, das Kind anbetend (Studie zur "Flucht nach Ägypten"), 1805

Philipp Otto Runge

Maria, das Kind anbetend (Studie zur "Flucht nach Ägypten"), 1805

Recto:
Nach seiner frühen Beschäftigung mit dem Thema der „Ruhe auf der Flucht“ in Zeichnungen (vgl. Inv. Nr. 1938-110, 1997-29) und einem Gemälde (Anm. 1) griff Runge, so wird allgemein angenommen, für einen Auftrag aus Greifswald 1805/06 das Thema erneut auf: „Von meinem Bruder Gustaf in Mecklenburg vernehme ich, daß man bey Ihnen in Greifswald eine Summe zu einem Altarbild ausgesetzt habe und daß Sie im Sinne hätten, mich zur Ausführung vorzuschlagen. Ich danke Ihnen vorerst herzlich für Ihr Zutrauen, und wünsche, daß, wenn es gelänge, keine große Rivalerie eintreten möchte. Ich habe deswegen auch an meine Geschwister nach Wolgast geschrieben, Sie nicht darum zu treiben, weil Sie wissen würden, was Sie zu thun hätten. Ich selbst wollte Ihnen aber doch wenigstens für Ihr gutes Andenken danken und Ihnen sagen, daß Sie mir gewiß keinen geringen Dienst erwiesen haben würden, indem Sie mir eine so gute Gelegenheit, etwas auszuführen, eröffnet; hoffe auch, daß, wenn Sie gleich von einem bekannten guten Meister in einer sichern und beliebten Manier dort vielleicht mehr befriedigt würden, Sie dagegen etwa bey Vollendung einer Arbeit von mir den guten Willen, Fleiß und Liebe zur Sache mehr hervorstechen sähen, da mich die Routine noch nicht kalt gemacht hat“, schrieb Runge am 3. Mai an Johann Gottfried Quistorp (Anm. 2). Das in Rede stehende Altarbild war für die Marienkirche in Greifswald vorgesehen, wo man seit den 1790er Jahren auf die Erneuerung des baufälligen Altars wartete (Anm. 3). Bereits 1797 hatte Quistorp, der erste Lehrer Caspar David Friedrichs und Zeichenlehrer an der dortigen Universität, einen Entwurf angefertigt (Anm. 4), doch erst 1802, nachdem während eines Gottesdienstes Teile des alten Renaissance-Altars herabgestürzt waren, wurden die Planungen konkreter. Quistorp verhandelte Pyl zufolge zuerst mit Runge, und dann mit Caspar David Friedrich über ein Altargemälde; eine Ausführung durch Runge unterblieb infolge von dessen Tod 1810 und auch Friedrichs Gemälde kam wegen der nicht ausreichenden Geldmittel 1815 nicht zur Ausführung, weshalb für den Altar schließlich eine Kopie von Klinkowström nach Correggios Nacht in Dresden angekauft wurde (Anm. 5).
Aus den spärlichen Nachrichten hatte Börsch-Supan schließen wollen, dass Friedrich von Beginn an seit 1805 in die Verhandlungen einbezogen war (Anm. 6). Auch wenn Pyls Text für eine solche Annahme keinen Anhaltspunkt gibt, könnte Runges Bemerkung auf eine zu verhindernde „Rivalerie“ ein Hinweis sein, dass bereits 1805 von dem mit dem Altarprojekt betrauten Quistorp auch andere Künstler angefragt wurden (Anm. 7). Nachdem Runge es für am besten hielt, „ohne so sehr weitläufige rekommendation“ an den Auftrag zu gelangen (Anm. 8), hatte er bereits am 10. Mai zwei Zeichnungen an Carl Schildener gesandt, den er gebeten hatte, die Zeichnungen auch Quistorp zu zeigen; eine davon könnte “zu der großen Arbeit recht gut würken.“ (Anm. 9) Bei den beiden Schildener übersandten Zeichnungen handelt es sich um „Quelle und Dichter“ (Inv. Nr. 34257) und um die „Ruhe auf der Flucht“ (Inv. Nr. 34152).
Am 31. Mai war die Angelegenheit noch nicht entschieden, als Runge an den Vater schrieb: „Es wäre mir über alles angenehm und gewiß ein großes Glück, wenn man mir in Greifswald die Verfertigung eines Altarblattes anvertrauen sollte. Ich würde Ihnen dort mit wenig Mühe einen Gedanken hinschreiben, der sie durch den Reiz der Farben in Verwunderung setzen sollte.“ (Anm. 10) Am 11. Juni 1805 bat Runge Schildener, ihm die beiden Zeichnungen zurückzusenden, „da ich mir (gegen meine Natur) vorgenommen habe, nichts anzufangen, daß ich nicht fortgehend ausführe. Da diese beiden Zeichnungen nun bestimmt in meinem Plan liegen, und ich, ohne solche fertig zu haben, in meinen größeren Entwürfen nicht fortfahren kann, so macht es mir jetzt eine Lücke, die mich verleiten könnte, wieder etwas Neues anzufangen, welches mir nicht gut ist.“ (Anm. 11) Die Entscheidung zugunsten Runges scheint Anfang Juli 1805 gefallen zu sein, als einige Greifswalder Persönlichkeiten in Wolgast weilten, um Werke Runges zu begutachten. Bei dieser Gelegenheit versicherte Schildener, „daß Quistorp bestimmt den Auftrag wegen des Altargemähldes in Greifswald habe.“ (Anm. 12)
Es wird allgemein angenommen, dass es keine thematischen Vorschriften gab, doch möglicherweise gab Quistorp die Empfehlung zum Thema der „Ruhe auf der Flucht“, als er die Zeichnung bei Schildener sah. Nachweisen läßt sich allerdings nicht, dass Runge die „Ruhe auf der Flucht“ ausdrücklich für die Greifswalder Marienkirche gemalt hätte. Auffallend ist, dass Daniel bei der Besprechung der „Ruhe auf der Flucht“ den Greifswalder Auftrag nicht erwähnt, und auch Runges Mitteilung an Carl Schildener vom 5. November 1805, dass er im Sommer an der „Ruhe auf der Flucht“ gearbeitet hätte, doch wegen „der Unbestimmtheit Ihres Auftrages […]“(Anm. 13) dann das Bild seinem Bruder versprochen hatte, scheint dafür zu sprechen, dass es sich eher zunächst um einen Privatauftrag Schildeners handelte. Auch dass Runge es als Pendent zu „Quelle und Dichter“ ansah (vgl. Inv. Nr. 34152), spricht nicht für einen ausdrücklichen Entwurf als Altarbild genauso wie die „innere Verwandtschaft“, die die „Ruhe auf der Flucht“ mit „seinem Morgen, der den Anfang unter seinen Tageszeiten machen mußte, haben sollte“ (Anm. 14); sie könnte darauf hindeuten, dass das Gemälde nicht als Altarbild geplant war.
Die weiteren überlieferten Nachrichten sprechen jedenfalls nicht vorbehaltlos für die Identifizierung des Greifswalder Altargemäldes mit der „Ruhe auf der Flucht“. Am 12. April 1806 schrieb Runge an seinen Schwiegervater in Dresden: „es sind mir in Greiffswald einige Arbeiten an einer Kirche versprochen, die ich wol bey Ihnen in Dresden machen mögte“ (Anm. 15), doch ist es dazu nicht gekommen, denn Mitte Juni waren die Arbeiten wegen des Krieges ins Stocken geraten (Anm. 16). Der Umstand, dass Runge das Gemälde deshalb in Hamburg zurück gelassen hatte, wie er Goethe gegenüber mitteilte (Anm. 17), muss allerdings nicht gegen die Verknüpfung mit dem Greifswalder Auftrag sprechen (Anm. 18). Runge hatte das Gemälde im unvollendeten Zustand in Hamburg zurückgelassen, als er mit seiner Frau im Mai 1806 nach Wolgast reiste; die Arbeit an dem Gemälde (Anm. 19) nahm er auch nach seiner Rückkehr nach Hamburg nicht mehr auf. 1808 hatte Runge an Goethe seine „erste Skizze“ (Inv. Nr. 34152) und „ein Studium zum Hintergrund“ (Inv. Nr. 34155) geschickt und das angefangene Gemälde erwähnt, das er „sehr leicht beendigen können“ würde (Anm. 20), doch den Auftrag für Greifswald nicht erwähnt. Dies muss in diesem Zusammenhang verwundern, denn man würde eher erwarten, dass Runge, der offen um Goethes Interesse buhlte, über einen für ihn so prestigeträchtigen Auftrag berichtet hätte (Anm. 21).
Neben der letztlich nicht eindeutigen Überlieferung scheinen auch formale Aspekte wie das ausdrückliche Querformat des Gemäldes eine Verwendung als Altargemälde unwahrscheinlich zu machen. Quistorp hatte 1797 in seinem Entwurf eine zweigeschossige Altarwand geplant, zu der auch zwei Gemälde gehört hätten. Vorausgesetzt, Quistorps Planung besaß auch noch 1805 Gültigkeit, was sich nicht beweisen lässt, wäre Runges relativ kleinformatiges Gemälde in dem von Quistorp entworfenen Altaraufbau nur wenig zur Wirkung gekommen (Anm. 22). Die geschilderten Umstände sind eher Beleg, dass die „Ruhe auf der Flucht“ nicht für den Greifswalder Auftrag entstand sondern wohl für Schildener. Auch ist die Entstehungsgeschichte des unvollendeten Gemäldes aus den erhaltenen Quellen und den überlieferten Werken nicht immer klar ablesbar, doch konnte jüngst im Rahmen der Vorbereitungen der zu Runges 200. Todestag 2010 in der Hamburger Kunsthalle veranstalteten Ausstellung eine erste Ideenskizze zur „Ruhe auf der Flucht“ rekonstruiert werden. Die Skizze befand sich ehemals auf einem großformatigen Blatt – ca. 500 x 600 mm -, das bereits von Runge zu vier Blättern zerschnitten wurde, deren Vorderseiten er für Kopien nach einem Fuchskopf von Tischbein verwendete (vgl. Inv. Nr. 1938-1, 1938-137, 1938-187 und 34149). (Anm. 23) Traeger hatte die Versoseiten von Inv. Nr. 1838-1 und 1938-137 mit der „Ruhe auf der Flucht“ in Verbindung gesetzt und für beide Blätter den „locker suchenden Strich“ (Anm. 24) betont, konnte jedoch für die Versoseiten von Inv. Nr. 1938-187 und 34149 keine Verbindung zum Thema herstellen. Während Traeger in Inv. Nr. 1938-1 eine Skizze zur anbetenden Maria und in Inv. Nr. 1938-137 eine Studie zum Joseph erkannte, konnte erst Stolzenburg für die beiden Versoseiten von Inv. Nr. 1938-187 und 34149 den Zusammenhang mit der „Ruhe auf der Flucht“ herstellen (Anm. 25). Beide Blätter entsprechen in ihrem flüchtigen, skizzenhaften Duktus den bereits von Traeger zugeordneten Zeichnungen. Der ursprüngliche Entwurf zeigte Joseph noch am linken Bildrand stehend (Anm. 26), während Maria mit dem Kind bis auf geringfügig abweichende Details bereits der an Schildener am 10. Mai gesandten Pinselzeichnung (Inv. Nr. 34152) entspricht. Es kann deshalb kein Zweifel bestehen, dass es sich bei der rekonstruierten Skizze um einen ersten, im Format wohl entsprechenden Entwurf zur Figurenkomposition handelt, in dem die Landschaft noch keine Rolle spielte. Da die Pinselzeichnung am 10. Mai fertig war, ergibt dieses Datum für die rekonstruierte Skizze den „terminus ante“. Sie muss vor dem 10. Mai entstanden sein und belegt Runges Fähigkeit zur skizzenhaften, im Strich freien Anlage der ersten Figurenkomposition. Dass Runge selbst die Kompositionsstudie zerschnitt und für seine Kopien nach Tischbein benutzte, mag vor dem Hintergrund weniger erstaunlich erscheinen, dass für das Gemälde offensichtlich kein eindeutiger Auftrag vorlag und kurz darauf das angefangene Gemälde als Fragment liegenblieb. Runge sah wahrscheinlich keine weitere Veranlassung, diesen ersten Entwurf zu bewahren, der zudem nur skizzenhaft ausgeführt war und nicht dem Bild von Zeichnung entsprach, das Runge und sein Bruder Daniel bewahrt wissen wollte.

Peter Prange

1 Die Ruhe auf der Flucht, Öl/Lw, 24,2 x 33,5 cm, München, Bayerische Staatsgemäldesammlungen, neue Pinakothek, Inv. Nr. 15437, vgl. Jörg Traeger: Aus Philipp Otto Runges Anfängen als Maler. Eine frühe Fassung der ‚Ruhe auf der Flucht‘. Mit Anmerkungen zu Otto Sigismund Runge, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 55, 1992, S. 463-481, Abb. 1. Vgl. dazu auch die Vorzeichnung in Berlin, für die Traeger Runges Autorschaft zunächst ablehnte, vgl. Traeger 1975, S. 491, Nr. XLI, Abb.
2 Brief vom 3. Mai 1805 an Johann Gottfried Quistorp, vgl. HS II, S. 289.
3 Bereits 1783 hatte der Altermann Carl Heinrich Pogge 600 Taler für den Neubau des Altars gestiftet, vgl. Pyl 1885, S. 517.
4 Vgl. Michael Lissok: Ein neuer Altar für die Greifswalder Marienkirche, 1797-1837, in: Friedrich. Runge. Klinkowström. Die Geburt der Romantik, Ausst.-Kat. Pommersches Landesmuseum Greifswald, Berlin 2010, S. 108.
5 Pyl 1885, S. 517.
6 Helmut Börsch-Supan/Karl Wilhelm Jähnig: Caspar David Friedrich. Gemälde, Druckgraphik und bildmäßige Zeichnungen, München 1973, S. 25.
7Auch die von Daniel überlieferte Nachricht, dass Kosegarten 1805 an Friedrich oder Runge als Maler für ein Altarbild in der Kapelle in Vitte auf Rügen dachte, könnte sich auf die erwähnte „Rivalerie“ beziehen, denn in Vitte erhielt Runge schließlich den Auftrag, vgl. HS I, S. 348.
8 Brief vom 4. Mai 1805 an Carl, vgl. Philipp Otto Runge. Briefe in der Urfassung, hrsg. von Karl Friedrich Degner, Berlin 1940, S. 269-270.
9 Brief vom 18. Mai 1805 an Carl, vgl. Degner 1940, S. 274
10 Brief vom 31. Mai 1805 an den Vater, vgl. HS II, S. 290.
11 Brief vom 11. Juni 1805 an Carl Schildener, vgl. HS II, S. 291.
12 Brief vom 6. Juli 1805 vom Bruder Jakob an Runge, vgl. HS II, S. 291.
13 Brief vom 5. November 1805 an Carl Schildener, vgl. HS II, S. 297.
14 HS II, S. 499.
15 Brief vom 12. April 1806 an Carl Friedrich Bassenge, vgl. Degner 1940, S. 295.
16 Brief vom 14. Juni 1806 an Daniel, vgl. HS II, S. 308.
17 Brief vom 4. Dezember 1806 an Goethe, vgl. HS II, S. 331.
18 Traeger 1975, S. 382.
19 Die Ruhe auf der Flucht, Öl/Lw, 96,5 x 129,5 cm, Hamburger Kunsthalle, Inv. Nr. 1004, vgl. Traeger 1975, S. 386, Nr. 322, Abb.
20 Philipp Otto Runges Briefwechsel mit Goethe, hrsg. von Hellmuth Freiherrn von Maltzahn, Weimar 1940, S. 87.
21 Noch 1810 wollte der Greifswalder Professor Johann Friedrich Droysen, der auch einen Entwurf für den Altar gelifert hatte, „wegen der Gemahlde, von dem er vorher eine Skizze einsenden muss“, Runge kontaktieren. Droysen sah für den Altar zwei Gemälde vor, zu denen Runge Skizzen liefern sollte; auch diese Notiz Droysens könnte dafür sprechen, dass es sich nicht um die „Flucht nach Ägypten“ handelte, die in Greifswald bekannt war, vgl. Lissok 2010, S. 112.
22 Lissok 2010, S. 110.
23 Da Runge das Blatt selbst zerschnitt, war es Daniel offensichtlich nicht mehr bekannt.
24 Traeger 1975, S. 383, Nr. 318.
25 Vgl. die Montage bei Stolzenburg 2010, Abb. 6.
26 Klemm 2013, S. 266, Abb. 15, verweist für das Motiv des stehenden Joseph mit einem fressenden Esel auf Guiseppe Longhis 1803 erschienenen Kupferstich nach Camillo Procaccinis „Ruhe auf der Flucht“.


verso:
Runge war bereits in Kopenhagen mit der Kunst Tischbeins in Berührung gekommen, und blieb ihm auch nach seiner Rückkehr nach Hamburg verbunden, wohin Tischbein 1801 übersiedelt war. Das besondere Interesse Runges weckten dessen Tierstudien, die Tischbein im Rahmen seiner Untersuchungen zur Physiognomie der Menschen und Tiere angefertigt hatte: „Ein sehr großes Vergnügen machte ihm das unvergleichliche Talent des Directors Tischbein für Thierphysiognomien, besonders die Zeichnungen, welche derselbe von allen den wilden Thieren, die im Sommer 1804 auf dem Hamburger Berge gezeigt wurden, machte, und deren zum Theil recht ‚tüchtige Gesichter‘, wie R. sich ausdrückte, dieser im Winter darauf nachzeichnen wollte; wir besitzen davon bloß den sehr schönen Kopf des Waschbären.“ (Anm. 1) Der in Daniels Besitz befindliche Kopf eines Waschbären von Runge lässt sich genauso wenig nachweisen wie Tischbeins Vorlage, weshalb Traeger zu Recht eine Verwechslung mit den verschiedenen Studien nach dem „Kopf eines Fuchses“ angenommen hat (Anm. 2). Wahrscheinlich handelt es sich dabei um Inv. Nr. 1938-1, das sich möglicherweise aus Daniels Besitz stammend 1846 im Nachlass des Hamburger Malers Johann Joachim Faber befand, von wo es über den Verein für Hamburgische Geschichte in den Besitz der Hamburger Kunsthalle kam.
Von Runge existieren insgesamt vier Blätter mit Studien eines Fuchskopfes nach rechts, weshalb Traegers Annahme, Runge hätte als Vorlage eine Radierung mit Ansichten von Fuchsköpfen aus Tischbeins 1796 in Neapel erschienenem physiognomischen Werk benutzt (Anm. 3), sicher unzutreffend ist. Runge müsste dann den Fuchskopf seitenverkehrt übertragen haben, was für ihn ungewöhnlich wäre, da er sonst Vorlagen immer seitengleich kopiert. Zudem unterscheiden sich Runges weitgehend als Umrisse ausgeführte Zeichnungen auch von Tischbeins feinteiliger und in der Angabe der Binnenzeichnung differenzierter Radierung, weshalb Runge eine andere Vorlage zur Verfügung gehabt haben muss (Anm. 4). Diese tauchte erst vor wenigen Jahren im Kunsthandel auf, als ein Teil von Tischbeins Nachlass versteigert wurde, in dem sich ein Aquarell mit dem Fuchskopf befand (Anm. 5).
Daniel Runge erwähnt Runges Studien nach Physiognomien im Zusammenhang der „Freuden der Jagd“, doch gibt für diese Verbindung ebenso keine Anhaltspunkte wie für eine späte Datierung 1809 (Anm. 6). Vielmehr bestätigt die Rekonstruktion eines großformatigen Entwurfs zur „Flucht nach Ägypten“ auf der Rückseite der vier Blätter Daniels Datierung in das Jahr 1805. Nachdem Runge den Entwurf auf der Vorderseite verworfen hatte, zerschnitt er das Blatt und benutzte die Rückseiten für seine Tierstudien nach Tischbein, die offensichtlich ohne konkreten Werkbezug entstanden, sondern wohl Ausdruck eines allgemeinen Interesses an Fragen der Physiognomie sind (Anm. 7), die wenig später in „Petrus auf dem Meer“ eine besondere Rolle spielen sollten. Erstaunlich ist allerdings, mit welcher Intensität sich Runge der Vorlage Tischbeins widmete. Tischbeins Aquarell reduziert Runge in verschiedenen Stufen beginnend wahrscheinlich mit der Bleistift- (Inv. Nr. 1938-137) und der Federzeichnung (Inv. Nr. 1938-1 verso) auf den Umriss bzw. die graphische Struktur der Linien bis zu Inv. Nr. 34149, das in der zeichnerischen Bewältigung am sichersten und souveränsten erscheint.
1 HS I, S. 351.
2 Traeger 1975, S. 380, Nr. 314 a.
3 Johann Heinrich Wilhelm Tischbein, Têtes de differents animaux dessinées d’apres nature pour donner une idée plus exacte de leurs caractères, par Guillaume Tischbein, Neapel 1796.
4 Auch ein von Hinrich Sieveking: Zwischen Rokoko und Romantik, in: Weltkunst XLVI, 1976, Nr. 8, S. 727, angeführtes Blatt Tischbeins mit dem Kopf eines Fuchses in Münchner Kunsthandel weist Unterschiede zu Runges Fassung auf, weshalb es ebenfalls als Vorlage nicht in Frage kommt.
5 Johann Heinrich Wilhelm Tischbein, Wolfskopf, Feder in Grau, schwarze Kreide, Aquarell, 288 x 375 mm, Klassik Stiftung Weimar, Graphische Sammlung, Inv. Nr. KK 12102, vgl. Johann Heinrich Wilhelm Tischbein. Aquarelle, Gouachen und Zeichnungen, Klassik Stiftung Weimar, Kulturstiftung der Länder – Patrimonia 274, Weimar 2006, S. 101, Nr. 213, Abb. 28
6 Pauli 1916, S. 43, Nr. 141; Böttcher 1937, S. 185, Anm. 2; Berefelt 1961, S. 225, Anm. 2.
7 Traeger 1975, S. 381, Nr. 314 c bringt die Studien mit Runges damaligen Interesse „an psychosomatischen Problemen“ in Zusammenhang, das seinen Ausdruck auch im Besuch der Vorlesungen Franz Joseph Galls im Frühjahr 1806 findet, vgl. HS II, S. 500.

Details zu diesem Werk

Beschriftung

Unten in der Mitte (von der Hand Johann Joachim Fabers?) bezeichnet: "Otto Runge in Hamburg" (Bleistift); auf dem Verso unten in der Mitte bezeichnet: "nach Tischbein" (Bleistift); rechts daneben: bezeichnet: "Fabers Nachlass, 1846" (Feder in Braun); oben rechts Stempel des "Vereins für Hamb. Geschichte" (Stempel in Blau; um 180 Grad gedreht; Bleistift, durchgestrichen); oberhalb davon links am Rand Federproben in Schwarz

Verso

Titel verso: Kopf eines Fuchses im Profil nach rechts (nach Johann Heinrich Wilhelm Tischbein)

Technik verso: Feder und Pinsel in Schwarz über Bleistift

Provenienz

Wohl Geschenk des Künstlers an den Maler Johann Joachim Faber (1778-1846), Hamburg (bis 1846) ((verso: "Fabers Nachlass, 1846")); erworben 1938 vom Verein für Hamburgische Geschichte aus Fabers Nachlass

Bibliographie

David Klemm, Andreas Stolzenburg: Runge als Zeichner, in: Hamburg/ München 2010 München 2010, S. 9-22, S.19, Abb.6 auf S. 18

Hermann Mildenberger: J. H. W. Tischbein - Philipp Otto Runge - Friedrich Overbeck. Apekte des künstlerischen Austauschs, in: Jahrbuch des Schleswig-Holsteinischen Landesmuseums Schloss Gottorf 1, 1986-87, Neumünster 1988, S. 31-87, S.47-48, 58, Abb.29 auf S. ?

Runge. Fragen und Antworten, hrsg. von Hanna Hohl, München 1979, S.13

Runge in seiner Zeit, hrsg. von Werner Hofmann, Ausst.-Kat. Hamburger Kunsthalle 1977, S.179, Nr.147, Abb.

Jörg Traeger: Philipp Otto Runge und sein Werk. Monographie und kritischer Katalog, München 1975, S.109, 175, 185, 383, Nr.318, Abb.

Katalog der Meister des 19. Jahrhunderts in der Hamburger Kunsthalle, bearb. von Eva Maria Krafft, Carl-Wolfgang Schümann, Hamburg 1969, S.280

Philipp Otto Runge: Philipp Otto Runges Briefe, hrsg. von Margrit Vasella-Lüber, Zürich 1967, S.59, Anm. 31

Idee und Vollendung, Ausst.-Kat. 16. Ruhrfestspiele Recklinghausen, Städtische Kunsthalle, Recklinghausen 1962, S.134, Nr.55a

Philipp Otto Runge 23. Juli 1777 Wolgast - 2. Dezember Hamburg 1810. Zeichnungen und Scherenschnitte. Gedächtnis-Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle aus Anlaß der 150. Wiederkehr seines Todestages, Ausst.-Kat. Hamburger Kunsthalle 1960, S.14, Nr.74

Malende Dichter, dichtende Maler, St. Gallen 1957, S.48, Nr.652

Christian Adolf Isermeyer: Philipp Otto Runge, Die Kunstbücher des Volkes, Bd. 32, Berlin 1940, S.129