Philipp Otto Runge
Diomedes und Odysseus überraschen Rhesos, 1800
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Philipp Otto Runge

Diomedes und Odysseus überraschen Rhesos, 1800

Philipp Otto Runge

Diomedes und Odysseus überraschen Rhesos, 1800

Eine Preisaufgabe für das Jahr 1800 in Weimar lautete, eine Darstellung mit dem „Tod des Rhesus“ einzureichen, jenes thrakischen Königs, der im Trojanischen Krieg den Tod fand: „Ulyss und Diomed, welche das trojanische Lager nächtlich überfallen, den Rhesos mit seinen Gesellen ermorden und die schönen Pferde erbeuten.“ (Anm. 1) Unter dem Schutz und der Führung der Göttin Athene, die auf der Seite der Griechen stand, schlichen sich Diomedes und Odysseus in das Lager der Trojaner, um herauszufinden, wo die einzelnen Abteilungen des gegnerischen Heeres liegen. Dabei tötete Diomedes viele schlafende Thraker und auch deren König Rhesos während eines Traumes, während Odysseus die berühmten Pferde des Königs stahl. Das Thema liegt in zwei Überlieferungen vor, die ältere stammt aus dem zehnten Buch der Illias des Homer (Anm. 2), eine zweite Überlieferung ist dem Euripides zugeschrieben worden, doch wird seine Autorschaft angezweifelt (Anm. 3).
Das Sujet war in der Kunst ohne Vorbild; in den „Tableaux tirés de l’Illiade“ des Comte de Caylus von 1757 fehlt die Darstellung, weil es sich um eine nächtliche Szene handelt, die von der Malerei gar nicht dargestellt werden könnte, und Meyer selbst, der das Thema vorgeschlagen hatte, schrieb im November 1799 an Goethe, dass dieser Gegenstand seines Wissens „noch nie“ behandelt worden sei (Anm. 4). Einzig John Flaxman hatte in den Umrissstichen seiner Illias die beiden Helden dargestellt, doch zeigt er nicht die eigentliche Tat, sondern wie sie mit den geraubten Pferden wieder im Lager der Griechen eintreffen (Anm. 5).
Runge war durch Speckter schon im Januar 1800 auf die Weimarer Preisaufgaben hingewiesen worden: „Speckter‘ Meynung, ich solle doch auch etwas an die Weimarschen Preisaufgaben denken, ist recht gut und es können mir auch bisweilen recht gute Sachen einfallen, aber wenn ich dann zeichnen will, vergeht mir alle Courage; doch will ich mich mehr darauf befleißigen.“ (Anm. 6) Runge hat sich in der Folgezeit dem Thema gewidmet, doch seine Zeichnung nicht nach Weimar gesandt, wahrschein, weil er sich der Aufgabe nicht gewachsen sah. Deshalb spricht auch unverhohlene Genugtuung aus ihm, als er nach der Lektüre der Rezensionen der preisgekrönten Beiträge ein Jahr später Speckter mitteilte: „Ich habe die Preisertheilung in Weimar und Beschreibung der eingegangenen Stücke mit ausnehmendem Vergnügen gelesen. Was mir aber die meiste Freude machte, war, daß meine Gedanken, die ich über die Aufgabe hatte, vorzüglich über den Tod des Rhesus, ziemlich mit denen der besten Concurrenten übereingestimmt haben, und ich denke wohl, künftigen Sommer mit um den Preis zu laufen, denn es ist doch keine geringe Freude, wenn man vernehmen kann, daß das, worauf unsre Wahl gefallen ist, und wie wir es durch Erfahrung in uns zu berichtigen gesucht haben, auch würklich etwas richtiges ist.“ (Anm. 7)
Die beiden Nachtszenen Inv. Nr. 34243 und Inv. Nr. 34244 wurden bisher mit Runges eigenständiger Beschäftigung mit der Weimarer Preisaufgabe in Zusammenhang gebracht, die Berefelt zufolge im Herbst 1800 entstanden (Anm. 8).
Seit Pauli für Inv. Nr. 34243 den Bildgegenstand als „Diomedes und Odysseus überraschen Rhesos“ bezeichnet hat, ist die Identifizierung des Sujets nicht angezweifelt worden. Die Preisaufgabe unterschied mit dem „Abschied Hektors von Andromache“ und dem „Tod des Rhesos“ zwischen einem sentimentalen und einem heroisch-pathetischen Thema, das in den „Propyläen“ entsprechend beschrieben wurde: „Das Zweyte ist von ganz entgegen gesetztem Charakter. Ein verwegnes Unternehmen zweyer Helden, ihre Kraft, Kühnheit, Vorsicht, sollen dargestellt werden. Die Gruppen der erschlagenen Thrazier, als Gegensätze der erbeuteten weißen Pferde gebraucht, werden den Effect begünstigen. Es ist hier um malerische Wirkung zu thun. Es ist ein Bild aufzustellen, welches, durch Anordnung, durch Wirkung von Licht und Schatten usw. zu gefallen sucht und die Forderungen der Kunst von dieser Seite befriedigt.“ (Anm. 9) Insbesondere letztere Forderung nach ausgewogener Komposition und Lichtwirkung scheint Runges Zeichnung zu erfüllen, doch ist von dem verwegenen Unternehmen, das Kühnheit und Mut erfordert, nichts zu spüren. Zwar wird in der „Illias“ die Ermordung des Rhesos nur kurz erwähnt, doch nähert sich Homer zufolge nur Diomedes dem Thrakerkönig, um ihn, nachdem Diomedes bereits zwölf seiner Soldaten getötet hatte, auch zu ermorden. Bei Runge treten dagegen zwei Helden auf den vermeintlichen Rhesos zu; auch handelt es sich bei den liegenden Soldaten offensichtlich um keine Toten sondern um Schlafende. Klemm hat deshalb zuletzt das Rhesos-Thema angezweifelt, und stattdessen als Sujet den 2. Gesang der Illias geschilderte Geschichte vorgeschlagen, wie Nestor und Agamemnon Diomedes aufwecken (Anm. 10). Trifft Klemms Vermutung zu, dann wäre Inv. Nr. 34243 nicht mehr mit der Weimerer Preisaufgabe in Verbindung zu bringen. Runge hat das Thema noch in einer anderen Fassung, auf der drei Helden an den vermeintlichen Rhesos herantreten (Anm. 11), verarbeitet, doch ist aufgrund der skizzenhaften, nicht in allen Teilen ausgeführten Anlage keine eindeutige Entscheidung darüber möglich, ob diese Fassung vor Inv. Nr. 34243 entstand.
Damit erhält aber Berefelts Vermutung, dass Inv. Nr. 34243 zuerst entstand und erst danach Inv. Nr. 34244, ein anderes Gewicht. Inv. Nr. 34244 schildert den späteren Moment des Epos, als sich Odysseus und Diomedes nach der Ermordung des Rhesos auf Ermahnung Athenas mit den Pferden der Thraker zu ihren Schiffen zurückziehen (Anm. 12). Insgesamt ist die Ausführung sicherer, „in den Körpern zeigt sich ein mehr geklärter zeichnerischer Duktus, die Standmotive sind freier, die Lichtverteilung ist besser beherrscht und die Lavierungstechnik wird nun sicherer bemeistert […]. (Anm. 13) In der Tat ist der Unterschied zwischen beiden Zeichnungen beträchtlich, weshalb Berefelts Vermutung nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen ist, es handle sich bei Inv. Nr. 34244 um eine nachträglich angefertigte Version, nachdem Runge zwischen dem 23. Dezember 1800 und dem 13. Januar 1801 das zweite Heft der Propyläen mit der Rezension in die Hand bekommen hatte. Dort hieß es: Diomed steht in der Mitte des Bildes, mit der Hand hält er den Wagen des Rhesus gefaßt, den er […] mitnehmen wollte; ihm zu Füßen, am Wagen, liegt der erschlagene Rhesus, auf seinen Waffen, schön verkürzt; […] Pallas erscheint dem Helden und gebietet ihm den Rückzug. Unwillig zaudert er ihr zu gehorchen. Die Göttin, leicht auf Wolken einherschreitend, nimmt die linke Seite des Bildes ein, sie ist zierlich drapiert und überhaupt eine gefällige Gestalt. Ihr gegenüber, auf der andern Seite des Bildes, hält Ulysses vier Weiße Pferde, die von der Erscheinung scheu sich bäumen […].“(Anm. 14) Auch wenn sich die Beschreibung auf das von Joseph Hoffmann eingesandte Blatt bezieht (Anm. 15), kommt Runge Version der Beschreibung sehr nahe, weshalb nicht auszuschließen ist, dass Inv. Nr. 34244 erst um die Jahreswende 1800/1801 oder später entstanden ist. Bei Runge hat Diomedes, der die Bildmitte einnimmt, sein mörderisches Werk gerade verrichtet, während Athena ihm gebietet, sich zurück zu ziehen; ähnlich wie bei Hoffmann erscheint Odysseus mit den Pferden davon abgelöst rechts im Hintergrund. Ein weiteres Indiz könnte für diese spätere Ansetzung sprechen: Die Figur der Athena, die die Kenntnis von Flaxmans Athena in dessen Illias voraussetzt (Anm. 16), erscheint ähnlich auf Runges Blatt für die Preisaufgabe 1801 (vgl. 34231), was für eine größere zeitliche Nähe beider Blätter sprechen könnte als bisher angenommen. Erst mit Inv. Nr. 34244 hat sich Runge intensiv mit der Weimarer Preisaufgabe beschäftigt, während Inv.
Nr. 34243 möglicherweise noch auf seine bereits in Hamburg einsetzende Beschäftigung mit Homer zurückgeht.

Peter Prange

1 Preisaufgabe fürs Jahr 1800, in: Propyläen. Eine periodische Schrift III, 1, 1800, S. 167.
2 Illias X, 477-515.
3 Euripides, Rhesos.
4 Vgl. Dönike 2005, S. 247.
5 The Illias of Homer, engraved by T. Piroli from the Compositions of John Flaxman, Rome 1793, Taf. 19.
6 Brief vom 28. Januar 1800 an Daniel, vgl. HS II, S. 42.
7 Brief vom 13. Januar an Speckter, vgl. HS II, S. 63.
8 Berefelt 1961, S. 199.
9 Propyläen 1800, S. 167-168.
10 Illias II, 112, vgl. Klemm 2013, S. 275, Anm. 94.
11 Odysseus und Diomedes überraschen Rhesos (?), Bleistift, 205 x 329 mm, Privatbesitz, vgl. Traeger 1975, S. 338, Nr. 254 verso.
12 Illias, X, 507 ff.
13 Berefelt 1961, S. 200.
14 Propyläen. Eine periodische Schrift III, 2, 1800, S. 103.
15 Joseph Hoffmann, Tod des Rhesus, Pinsel in Braun, Aquarell, 615 x 1023 mm, Klassik Stiftung Weimar, Graphische Sammlung Inv. Nr.
16 Flaxman 1793, Taf. 1.

Details zu diesem Werk

Beschriftung

Auf dem Verso unten links von der Mitte bezeichnet: "Zur Illiade / Kopenhagen 1800" (Bleistift); rechts daneben nummeriert: "10" (Bleistift)

Provenienz

Nachlass des Künstlers; ab 1810 im Besitz des Bruders Johann Daniel Runge (1767-1856), Hamburg; nach dessen Tod am 12. 3. 1856 im Besitz der Witwe Philipp Otto Runges, Pauline Runge (1785-1881), geb. Bassenge; als deren Geschenk an den Kunstverein in Hamburg, 30. 4. 1856 (Hamburger Kunsthalle, Archiv des Kupferstichkabinetts, Archiv Nr. 307, Catalog der Sammlung des Kunst-Vereins in Hamburg, S. 106, Nr. 495 g 1/2: "2 Bt. Sepia. Zeichnungen zu Homers Illiade. Copen-/ hagen 1800. qfol & grqfol."); Geschenk des Kunstvereins in Hamburg an das Kupferstichkabinett der Hamburger Kunsthalle, 1891

Bibliographie

Kosmos Runge. Der Morgen der Romantik. Katalogteil, hrsg. von Markus Bertsch, Uwe Fleckner, Jenns Howoldt, Andreas Stolzenburg, München 2010, S.112, 385, Nr.69, Abb.

Martin Dönike: Pathos, Ausdruck und Bewegung. Zur Ästhetik des Weimarer Klassizismus, Berlin-New York 2005, S.249, Anm. 558

Susanne Strasser-Klotz: Runge und Ossian. Kunst, Literatur, Farbenlehre, Diss., Regensburg 1995 (http://deposit.d-nb.de/cgi-bin/dokserv?idn=975068997&dok_var=d1&dok_ext=pdf&filename=975068997.pdf), S.35, 97 (Anhang)

Sarah Symmons: Flaxman and Europe. The Outline Illustrations and their Influence, New. York, London 1984, S.216

Philipp Otto Runge: Philipp Otto Runge. Briefe und Schriften, hrsg. von Peter Betthausen, Berlin 1981, S.9, 326, Abb.14

Runge in seiner Zeit, hrsg. von Werner Hofmann, Ausst.-Kat. Hamburger Kunsthalle 1977, S.86, 95, Nr.42, Abb.

Jörg Traeger: Philipp Otto Runge und sein Werk. Monographie und kritischer Katalog, München 1975, S.30, 289-290, Nr.128, Abb.

Jahrbuch der Hamburger Kunstsammlungen, hrsg. von Hamburger Kunsthalle und Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg, Bd. 19, 1974, S.13-36

Christa Franke: Philipp Otto Runge und die Kunstansichten Wackenroders und Tiecks, hrsg. von Joseph Kunz, Erich Ruprecht, Ludwig Erich Schmitt, Marburger Beiträge zur Germanistik, Bd. 49, Marburg 1974, zugl. Marburg, Univ.-Diss., 1972, S.15

Philipp Otto Runge: Hinterlassene Schriften, hrsg. von Daniel Runge, Bd. 2, Hamburg 1841 (Reprint: Göttingen 1965), S.63, 453

Gunnar Berefelt: Philipp Otto Runge zwischen Aufbruch und Opposition 1777-1802, Stockholm Studies in History of Art, Bd. 7, Stockholm 1961, S.130, 199-200, 229, 231, Abb.134

Philipp Otto Runge 23. Juli 1777 Wolgast - 2. Dezember Hamburg 1810. Zeichnungen und Scherenschnitte. Gedächtnis-Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle aus Anlaß der 150. Wiederkehr seines Todestages, Ausst.-Kat. Hamburger Kunsthalle 1960, S.8, 10, Nr.51

Charlotte Hintze: Kopenhagen und die deutsche Malerei um 1800, München 1937, S.67

Otto Böttcher: Philipp Otto Runge. Sein Leben, Wirken und Schaffen, Hamburg 1937, S.290

Gustav Pauli: Philipp Otto Runges Zeichnungen und Scherenschnitte in der Kunsthalle zu Hamburg, Berlin 1916, S.27, Nr.6