Jan van Scorel (auch: Schoorel, Schoreel), zugeschrieben Hendrick van Cleve (III.), ehemals zugeschrieben
Stadt am Wasser, 1520 - 1521
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Jan van Scorel (auch: Schoorel, Schoreel), zugeschrieben Hendrick van Cleve (III.), ehemals zugeschrieben

Stadt am Wasser, 1520 - 1521

Jan van Scorel (auch: Schoorel, Schoreel), zugeschrieben Hendrick van Cleve (III.), ehemals zugeschrieben

Stadt am Wasser, 1520 - 1521

Die von Harzen überlieferte alte Zuschreibung an Hendrick van Cleve muss aus stilistischen Gründen aufgegeben werden, denn die erhaltenen Zeichnungen dieses Künstlers – größtenteils Reinzeichnungen und Stichvorlagen aus den 1580er Jahren – sind ungleich disziplinierter gearbeitet, mit sauber und kurz angerissenen, dem jeweiligen Gegenstand angepassten Parallelschraffen.(Anm.2) Auf unserem Blatt hingegen überwiegt die Horizontalschraffur, und die schwingenden Konturen von Dächern und Horizont unterscheiden sich von grundsätzlich verwandten Landschaftsskizzen Van Cleves aus den 1530er Jahren.(Anm.3)
In diesen Eigenschaften erinnert die Zeichnung an Arbeiten Jan van Scorels, dem sie hier zugeschrieben werden soll. Durch Einbeziehung des weißen Papiergrundes hervorgehobene Licht-Schatten-Kontraste lassen sich mit der um 1519/20 entstandenen „Phantastischen Berglandschaft“ in London verbinden, wo ein ähnlicher Rundturm mit Anbauten dargestellt ist; ebenfalls vergleichbar sind die dichte Schraffur und die chiffrenhafte Wiedergabe von Figuren, Fenstern und Bäumen.(Anm.4) Unruhige, bisweilen „ausgefranst“ wirkende Gebäudekonturen erinnern an die um 1520, vermutlich vor Ort aufgenommene „Ansicht von Bethlehem“,(Anm.5) begegnen aber auch auf der Unterzeichnung eines um 1519/20 angesetzten Gemäldes.(Anm.6) Dort finden sich ähnlich eng hintereinander gestaffelte Gebäude, ebenso wie auf Van Scorels mit großer Sicherheit in Venedig entstandener „Landschaft mit Tobias und dem Engel“ von 1521.(Anm.7) Dieses Bild ist mit der Hamburger Zeichnung zusätzlich durch Motivübernahme verbunden: Die hier links skizzierte Silhouette des mit Buschwerk bewach­senen Hügels ist dort im rechten Hintergrund auszumachen; Architekturmotive wie Treppenaufgang, Arkadengang und überdachter Rundturm wurden versatzstückartig und leicht abgewandelt an verschiedenen Stellen des Gemäldes übernommen.
Angesichts dieser Bezüge ist für unsere Zeichnung eine Entstehung um 1519/20 zu vermuten.(Anm.8) Das verglichen mit der „Phantastischen Berglandschaft“ und der „Ansicht von Bethlehem“ deutlich kleinere Format ließe sich auf Herkunft aus einem Skizzenbuch zurückführen. Unabhängig davon kennzeichnet die flüchtige Ausführung das Blatt als Vor-Ort-Aufnahme. Bei der rechts angeschnittenen Partie könnte es sich um eine Hauswand handeln, die in ihrer Funktion als „Blindzone“ nur in den Umrissen skizziert wurde.(Anm.9) Nicht immer einwandfrei gelöst wurde das proportionale Verhältnis zwischen Figuren und Schiffen am Hafenkai.
Auch das auffällige Motiv des Ladekrans vorne rechts geht mit einer Funktion als Naturaufnahme konform. Entsprechende Kräne wurden in den 1520er Jahren europaweit eingesetzt und unterstreichen damit den Realitätsbezug der Studie. Auf den idealisierten Landschaften Van Scorels hingegen fand dieses Motiv in der Regel keine Aufnahme.(Anm.10)
Im Zusammenhang mit Van Scorels Reise nach Jerusalem beschrieb Karel van Mander die unermüdlichen Aktivitäten des Zeichners: „Er hatte sein ganzes Malgerät mitgenommen und war während der Fahrt nicht müßig, sondern porträtierte einige Leute nach der Natur, führte Tagebuch und zeichnete auch unterwegs auf Kreta, Cypern und anderswo Landschaften, Veduten, kleine Städte, Kastelle und Gebirge nach der Natur …“.(Anm.11) Unser Blatt könnte eine dieser bislang als verschollen geltenden Studien sein.
Auf der Rückseite der Zeichnung befinden sich zwei Fragmente eines Gedichts oder Liedes, die kürzlich von Marten Jan Bok transkribiert wurden. Offensichtlich testete der Schreiber hier verschiedene Wortfolgen auf der Suche nach der richtigen Formulierung.(Anm.12) Kann es sich bei dem Verfasser dieser Zeilen um den Künstler selbst handeln? Der mit der Zeichnung übereinstimmende braune Farbton könnte in diese Richtung weisen, und auch die Schrift stammt aus dem 16. Jahrhundert.(Anm.13) Der Überlieferung zufolge soll Van Scorel sich auch als Verfasser von Epigrammen und Liedern hervorgetan haben.(Anm.14)

Annemarie Stefes

2 Z. B. „Blick auf Neapel“, 1588, München, Staatliche Graphische Sammlung, Inv.-Nr. 1034, Holm Bevers: Niederländische Zeichnungen des 16. Jahrhunderts in der Staatlichen Graphischen Sammlung, Ausst.-Kat. München, Staatliche Graphische Sammlung, München 1989, Nr. 15, oder „Panorama von Rom“ und „Hügelige Landschaft mit Kirche“, jeweils 1585, beide Paris, Fondation Custodia, Inv.-Nr. 6006 und Inv.-Nr. XII, Karel G. Boon: The Netherlandish and German Drawings of the XVth and XVIth Centuries of the Frits Lugt Collection, 3 Bde., Paris 1992, Nr. 52 und 53.
3 Vgl. Matthijs Cocks „Hafenplatz in Felsenbucht“, 1538, München, Staatliche Graphische Sammlung, Inv.-Nr. 34491, Holm Bevers: Niederländische Zeichnungen des 16. Jahrhunderts in der Staatlichen Graphischen Sammlung, Ausst.-Kat. München, Staatliche Graphische Sammlung, München 1989, Nr. 17; vgl. Zeichnungen aus dem Errera-Skizzenbuch, Brüssel, Musées Royaux des Beaux-Arts, Sammlung De Grez, Inv.-Nr. 4060/4630, fol. 35 und fol. 57, oder aus dem Berliner Skizzenbuch, Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett, Inv.-Nr. 79 C 2, fol. 51v, Pieter Bruegel als Zeichner, Ausst.-Kat. Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett, Berlin 1975, Abb. 21.
4 London, British Museum, Department of Prints and Drawings, Inv.-Nr. 1909,0109.7 (205 x 153 mm), Molly Ann Faries, Martha Wolff: Landscape in early paintings of Jan van Scorel, in: The Burlington Magazine 138, 1996, Nr. 2, S. 724-733, Abb. 16. – Molly Faries akzeptierte die Zuschreibung an Van Scorel nach gründlichem Studium des Originals am 24. 3. 2009 und bezog sich dabei ebenfalls auf die Nähe zu der Londoner Zeichnung (freundliche Mitteilung per E-Mail, 24. 4. 2009).
5 London, British Museum, Department of Prints and Drawings, Inv.-Nr. 1928,0310.100 (172 x 299 mm), Anne-Claire de Liedekerke, Dominique Allart, Hans Devisscher: Fiamminghi a Roma 1508-1608. Artistes de Pays-Bas et de la Principaute de Liege a Rome a la Renaissance, Ausst.-Kat. Brüssel, Palais des Beaux-Arts, Rom, Palazzo delle Esposizioni, Gent 1995, Nr. 181.
6 „Landschaft mit Turnier und Jägern“, The Art Institute of Chicago, Inv.-Nr. 1990.560, Molly Ann Faries, Martha Wolff: Landscape in early paintings of Jan van Scorel, in: The Burlington Magazine 138, 1996, Nr. 2, S. 724-733, Abb. 2 und Abb. 17–19. Die in den Rundbögen leicht vibrierende Kontur begegnet auch in der Unterzeichnung von Van Scorels „Bathseba“, Amsterdam, Rijksmuseum, Inv.-Nr. SK-A-670, vgl. Molly Ann Faries: Underdrawings in the workshop production of Jan van Scorel - A study with infrared reflectography, in: Nederlands Kunsthistorisch Jaarboek 1975, Nr. 26, S. 89-228, Abb. 72.
7 Düsseldorf, Leihgabe im museum kunst palast, Sammlung der Kunstakademie (NRW), Faries 1996, Abb. 4. Der prominente Rundturm mit Dach und Schornstein begegnet auch leicht abgewandelt auf dem bei Anm. 6 zitierten Gemälde in Chicago.
8 Molly Faries dachte an einen Zusammenhang mit Van Scorels Reise nach Venedig (Hinweis per E-Mail, 24. 4. 2009). Alternativ in Betracht zu ziehen wäre auch eine etwas spätere Entstehung auf der Reise nach Palästina.
9 Vorgeschlagen von Thomas Döring auf dem Symposium „Niederländische Altmeisterzeichnungen 1500 bis 1800“ am 21. und 22. 2. 2008 im Kupferstichkabinett der Hamburger Kunsthalle. – Die theoretisch denkbare Alternative, dass es sich um eine von Gemälden Van Scorels inspirierte Werkstattkopie handelt, ist angesichts des freien, suchenden Strichs auszuschließen. Gegen die Möglichkeit einer Entstehung in Umkreis oder Nachfolge des Künstlers, wie sie von Thomas Ketelsen auf dem Hamburger Symposium 2008 vertreten wurde, sprechen die engen formalen Bezüge zu den größerformatigen Van Scorel-Zeichnungen: Ein Kopist wäre wohl kaum in der Lage, spezifische Eigenheiten Van Scorels in deutlich kleineren Maßstab derart glaubwürdig zu imitieren, vgl. Faries in einer Mitteilung vom 24. 4. 2009.
10 Auf die Seltenheit des Kranmotivs bei Van Scorel verwies Stijn Alsteens auf dem Hamburger Symposium, siehe Anm. 9. – Eine detaillierte Zeichnung eines derartigen Ladekrans in Brügge findet sich in einem Manuskript Simon Benings, München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm. 23638, fol. 11v; vgl. auch den Kran links auf einer 1538 datierten Küstenlandschaft des Matthijs Cock, München, Staatliche Graphische Sammlung, Inv.-Nr. 34491, Holm Bevers: Niederländische Zeichnungen des 16. Jahrhunderts in der Staatlichen Graphischen Sammlung, Ausst.-Kat. München, Staatliche Graphische Sammlung, München 1989, Nr. 17. Grundsätzlich ist bei Van Scorel ein Interesse an technischen Errungenschaften anzunehmen angesichts seiner späteren Beschäftigung mit Deich- und Grabenbau, wie von Molly Faries hervorgehoben wurde (Mitteilung per E-Mail vom 11. 4. 2008).
11 Vgl. Karel van Mander: Das Leben der niederländischen und deutschen Maler (von 1400 bis ca. 1615), übersetzt und hrsg. von Hanns Floerke, München 1905, S. 162.
12 Mitteilung von Marten Jan Bok, 20. 4. 2009. Das Lied konnte nicht identifiziert werden in der Liederdatenbank „http://www.liederenbank.nl/index.php?lan=nl“.
13 Bok, siehe Anm. 12. Bok spricht von einer trotz schwer zu entziffernder Partien geübten Hand.
14 Karel van Mander: Das Leben der niederländischen und deutschen Maler (von 1400 bis ca. 1615), übersetzt und hrsg. von Hanns Floerke, München 1905, S. 165.

Details zu diesem Werk

Beschriftung

Verso oben links Fragment eines Liedtextes, kopfstehend: „Lieffde moet scijne[n] lieffde miet he[m? haer?] tone[n] / [’t hert] ’t beminde herte conne lieffde niet tem[m]me[n] / lieffde / ’t verberge[n] es pijne om ’t bemercke[n] te hoeu / lieffde moet scijne[n] lieffde moet he[m? haer?] ton[en] / lieffde brinct druck pyn smarte om kom[mer] / lieffde doet [iemmand?] in’t lyde[n] swe[m]me[n] / wa[n]t lieffde moet scijne[n] lieffde moet he[m? haer?] tone[n]“ (Feder in Braun); u. l. von gleicher Hand, links beschnitten: „[…]ed lieffde scadelick belast bekuerlick / […]ft gepeynsick ni[m]mermeer verwervick / […]ijt vol vresen syns lust verkuurlick / […] lieffde scadelick belast bekuerlick / […] in diense en[de] getruerlick / […]nsins ontwijeckt [?] doir hope[n] stervick / […] lieffde scadelick belust bekuerlick / gepeynsick ni[m]mermeer verwervick / […] meerder wane so groter dervick“FN1 (Feder in Braun); unten rechts L. 1328 ( Transkribiert von Marten Jan Bok, 20. 4. 2009. )

Wasserzeichen / Kettenlinien

-
kaum erkennbar (h)

Provenienz

Wohl Peter Baron von Balk-Poleff (erste Hälfte 19. Jahrhundert), vgl. HK, KK, A, NH Ad: 10: 17; Georg Ernst Harzen (1790–1863), Hamburg (L. 1244), erworben 1854 in London; HK, KK, A, NH Ad: 03: 16, fol. 89; HK, KK, A, NH Ad:01:02, fol. 11 (als „Hendrik van Cleef“): „Eine Stadt am Ufer eines Flusses wo neben einem Krahn ein Seeschiff angelegt hat. Federzeichnung. 5.10. 4.8.“; HK, KK, A, NH Ad: 02: 01, S. 247; Legat Harzen 1863 an die „Städtische Gallerie“ Hamburg; 1868 der Stadt übereignet für die 1869 eröffnete Kunsthalle

Bibliographie

Stefes, Annemarie: Niederländische Zeichnungen 1450-1850. Katalog II van Musscher - Zegelaar, hrsg. von Gaßner, Hubertus und Stolzenburg, Andreas, Die Sammlungen der Hamburger Kunsthalle Kupferstichkabinett, Bd. 3, Böhlau Verlag Köln Weimar Wien 2011, S.521-522, Nr.987, Abb.Farbtafel S. 15

Frits Lugt: Rezension zu Pauli 1924, in: Onze Kunst 41, 1925, Nr. 22, S. 162-165, S.165