Giovanni Battista Piranesi
Architekturphantasie, 1750er Jahre
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Giovanni Battista Piranesi

Architekturphantasie, 1750er Jahre

Giovanni Battista Piranesi

Architekturphantasie, 1750er Jahre

Die vom Format her kleine Zeichnung beeindruckt durch die Kraft der Phantasie, mit der Piranesi hier einen über Eck gesehenen Irrgarten kolossaler Architektur entwarf. Unverkennbar steht der Künstler damit in der spätbarocken Tradition der durch die Familie Galli Bibiena weit verbreiteten „Scena per angolo“ („Bühnenbild über Eck“), doch sind in dieser Raumauffassung rational begreifbare Strukturen aufgehoben.(Anm. 1) Die Zeichnung hängt zusammen mit zwei Tafeln der „Carceri“, in der diese Phänomene auf die Spitze getrieben sind. Das Motiv der winklig aufeinander treffenden Hängebrückenteile findet sich in ähnlicher Form auf der Radierung „Die Zugbrücke“ (Tafel VII der II. Auflage). Das mächtige freistehende Quadermauerwerk mit Bogenöffnungen und beeindruckenden Balkenverstrebungen findet seine Entsprechung auf dem Blatt mit dem sogenannten Gotischen Bogen (Tafel XIV der II. Auflage).
Umstritten ist, ob dieses Blatt nun die Grundidee zu den Radierungen der ersten, wohl 1749/50 entstandenen Fassung enthält oder zwischen der ersten und der zweiten Auflage der „Carceri“ aus dem Jahr 1761 entwickelt wurde.(Anm. 2) Für eine Entstehung in der Frühphase des Projekts haben John Wilton-Ely (Anm. 3) und Andrea Bettagno (Anm. 4) plädiert. Dagegen haben Andrew Robison (Anm. 5) und Patricia May Sekler (Anm. 6) die spätere Lösung favorisiert. Wilton-Ely stellte sich den Schaffensprozess für die Radierung ausgehend von der Hamburger Zeichnung über ein Blatt in Edinburgh (Anm. 7) zu einem dritten Blatt in London (Anm. 8) vor. Robison wollte nur das Londoner Blatt als frühe Vorzeichnung zulassen, zu der Varianten in Hamburg und Edinburgh entwickelt worden sind.(Anm. 9) Diese Entwicklungslinie erscheint aus stilistischen Gründen plausibel, denn das Londoner Blatt kann überzeugend in die Mitte der 1740er Jahre datiert werden. In den Blättern in Edinburgh und Hamburg erkannte Robison Piranesis Zeichenstil der mittleren bzw. späten 1750er Jahre. Tatsächlich deuten die kraftvolle, vibrierende Zeichenweise und die dunkle Gesamtwirkung des Hamburger Blattes auf die zweite Fassung der Carceri hin. Es kann demnach als Weiterentwicklung oder Variante der ersten Carceri-Serie eingestuft werden. Bekanntermaßen erweiterte Piranesi die Serie in der zweiten Ausgabe um zwei Blätter. Daher ist es nicht ausgeschlossen, dass das Hamburger Blatt auch für den Druck geplant war, dann aber verworfen wurde.
Zur Montierung vgl. Inv.-Nr. 1915-638.

David Klemm

1 Venedigs Ruhm im Norden. Die großen venezianischen Maler des 18. Jahrhunderts, ihre Auftraggeber und Sammler, Ausst.-Kat. Hannover, Forum des Niedersächsischen Landesmuseums, Kunstmuseum Düsseldorf, Hannover 1991 , S. 354 (Beitrag Meinolf Trudzinski).
2 Ebd.
3 Piranesi, bearb. v. John Wilton-Ely, Ausst.-Kat. London, The Arts Council of Great Britain, London 1978, Nr. 194 (Beitrag John Wilton-Ely).
4 Disegni di Giambattista Piranesi, bearb. v. Alessandro Bettagno, Cataloghi di Mostre 41, Ausst.-Kat. Venedig, Fondazione Giorgio Cini, Vicenza 1978, S. 36–37, Nr. 20 (Beitrag Andrea Bettagno).
5 Andrew Robison: Piranesi. Early Architectural Fantasies, A Catalogue Raisonné of the Etchings, Washington, Chicago 1986, S. 41.
6 Patricia May Sekler: Notes on Old and Modern Drawings. Giovanni Battista Piranesi’s „Carceri“ Etchings and related Drawings, in: The Art Quarterly 25, 1962, S. 331-363 , S. 346.
7 Edinburgh, National Gallery of Scotland, Inv.-Nr. D 1858.
8 London, British Museum, Department of Prints and Drawings, Inv.-Nr. 1908-6-16–8.
9 Andrew Robison: Piranesi. Early Architectural Fantasies, A Catalogue Raisonné of the Etchings, Washington, Chicago 1986, S. 41.

Details zu diesem Werk

Beschriftung

Unten rechts auf dem Karton signiert: "Piranesi" (Feder in Dunkelbraun)

Auf dem Verso oben rechts bezeichnet: "I[?]" (blaue Kreide); in der Mitte Stempel der Hamburger Kunsthalle (L. 1233)

Provenienz

Möglicherweise Sammlung Giovanni Piancastelli (1845-1926), Rom (L 2087a, laut W. Stubbe in: Ausst.-Kat. Hamburg 1967); Dr. Emil Münsterberg (1855-1911), Berlin, ? - 1898 (HAHK: Slg 1 Ankäufe von Kunstwerken 1891-1914, 1898); dort erworben mit Staatsmitteln, 1898

Bibliographie

150 Jahre Hamburger Kunsthalle, hrsg. von Hamburger Abendblatt, 2019, Abb.14

Glanzstücke. Meisterwerke der Hamburger Kunsthalle, hrsg. von Ekkehard Nümman für die Freunde der Kunsthalle e.V., Hamburg 2018, S.34-35, Abb.

David Klemm: Piranesi. Carceri. Der Bestand des Kupferstichkabinetts der Hamburger Kunsthalle, hrsg. von Hubertus Gaßner, Andreas Stolzenburg, David Klemm, Ausst.-Kat. Hamburger Kunsthalle 2016, S.91, Nr.35, Abb.S. 85

Kunst aus acht Jahrhunderten, hrsg. von Hamburger Kunsthalle und Freunde der Kunsthalle e.V., Hamburg 2016, S.300, Abb.

David Klemm: Italienische Zeichnungen 1450-1800. Kupferstichkabinett der Hamburger Kunsthalle, Die Sammlungen der Hamburger Kunsthalle Kupferstichkabinett, Bd. 2, Köln u. a. 2009, S.281-282, Nr.406, Abb.Farbtafel S. 58

David Klemm: Von Leonardo bis Piranesi. Italienische Zeichnungen von 1450 bis 1800 aus dem Kupferstichkabinett der Hamburger Kunsthalle, hrsg. von Hubertus Gaßner, David Klemm und Andreas Stolzenburg, Ausst.-Kat. Hamburger Kunsthalle, Bremen 2008, S.184-185 und Umschlag hinten, Abb, 234, Nr.85

Silvia Gavazzo-Stewart: Nelle Carceri di G. P. Piranesi. Italian Perspectives 2 (Northern Universities Press), Leeds 1999, S.86, Abb.87

Silvia Gavuzzo-Stewart: Nelle Carceri di G. B. Piranesi, Leeds 1999, S.86, Abb.45

David Lachenmann: Fünfzig italienische Zeichungen des 16.-18. Jahrhunderts aus der Stiftung Ratjen, Vaduz, Ausst.-Kat. Vaduz, Liechtensteinische Staatliche Kunstsammlungen, Bern 1995, S.o.S., Nr.bei Nr. 45, Anm. 8

Venedigs Ruhm im Norden. Die großen venezianischen Maler des 18. Jahrhunderts, ihre Auftraggeber und Sammler, Ausst.-Kat. Forum des Landesmuseums Hannover 1991, S.354, Nr.132, Abb.

Hamburger Kunsthalle, hrsg. von Werner Hofmann, München 1989 (2. erw. Aufl.), S.212, Nr.475, Abb.475

Andrew Robison: Piranesi. Early Architectural Fantasies. A Catalogue Raisonné of the Etchings, Washington, Chicago 1986, S.41, 160, 195, Nr.bei Nr. 33, 40, Abb.51

Hamburger Kunsthalle, hrsg. von Werner Hofmann, München 1985, S.196, Nr.439, Abb.

Dessins vénitiens du dix-huitième siècle, Ausst.-Kat. Palais des Beaux-Arts, Brüssel 1983, S.187, Nr.124

Alessandro Bettagno: Disegni di Giambattista Piranesi, Ausst.-Kat. Venedig, Fondazione Giorgio Cini 1978, S.36, Nr.20, Abb.

Roseline Bacou: Piranèse. Gravures et dessins, Paris 1974, Abb.60

Keith Andrews: Catalogue of Italian Drawings, National Gallery of Scotland, Bd. 1, Cambridge 1968, S.96, Nr.bei D 1858

Patricia May Sekler: Notes on Old and Modern Drawings. Giovanni Battista Piranesi's "Carceri" Etchings and related Drawings, in: The Art Quarterly, 25, 1962, S. 331-363, S.346, Abb.20

Ulya Vogt-Göknil: Giovanni Battista Piranesi "Carceri", Zürich 1958, S.82, Abb.67

[Wolf Stubbe]: Italienische Zeichnungen 1500-1800. Ausstellung aus den Beständen des Kupferstichkabinetts, Ausst.-Kat. Hamburger Kunsthalle 1957, S.29, Nr.154

V. T. [nicht aufgelöst]: Amburgo: Mostra di disegni italiani dal XV al XVIII secolo, in: Emporium. Rivista mensile illustrata d'arte e di cultura 76, 1957, Nr. 126, S. 228-229, S.229

Karl Theodor Parker: Catalogue of the Collection of Drawings in the Ashmolean Museum, Bd. 3 (Italian Schools), Oxford 1956, S.521, Nr.bei Nr. 1039

Hylton Thomas: The Drawings of Giovanni Battista Piranesi, London 1954, S.38 unter Nr. 8

August Liebmann Mayer: Zeichnungen Alter Meister in der Kunsthalle zu Hamburg. Italiener, Pantheon Band II, 1928, S. 388, S.388

Odoardo H. Giglioli: [Anmerkungen zur Prestel-Mappe], in: Cronache d`Arte, 5, 1928, , S.263

Gustav Pauli: Zeichnungen Alter Meister in der Kunsthalle zu Hamburg. Italiener. Neue Folge, Frankfurt am Main 1927, Abb.Taf. 26

Jahresbericht der Kunsthalle zu Hamburg für 1915, Hamburg 1916, S.17

Albert Giesecke: Giovanni Battista Piranesi, Meister der Graphik, Bd. 6, Leipzig 1911, S.83, Abb.Taf. 63