Giovanni Ambrogio de Predis, Zeichner, (?)
Profilstudien weiblicher Figuren, um 1500
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Giovanni Ambrogio de Predis, Zeichner, (?)

Profilstudien weiblicher Figuren, um 1500

Giovanni Ambrogio de Predis, Zeichner, (?)

Profilstudien weiblicher Figuren, um 1500

Die Zeichnung mit den drei Profilstudien lässt sich erstmals im Besitz von Vivant Denon nachweisen, der sie womöglich auf einer seiner im Auftrag Napoleons durchgeführten Italienreisen erwarb. Er schätzte sie derart hoch ein, dass er das Blatt gleich zweimal, davon einmal in Farbe, faksimilierte.(Anm.1) Während Denon die Zeichnung für eine Arbeit Filippo Lippis hielt, bezeichnete sie Georg Ernst Harzen als an „Trefflichkeit Lionardo nicht nachstehend“ und schrieb sie dessen Lehrer Andrea Verrocchio zu (siehe Inventareintrag oben).
Erst Woldemar von Seidlitz brachte das Blatt 1906 mit Ambrogio de Predis, also einem Künstler im Umkreis von Leonardo, in Verbindung. Dieser genoss in Mailand die Gunst Ludovico Sforzas, genannt il Moro, und erzielte später auch am Hofe von Kaiser Maximilian I. Erfolge. Lange Zeit waren ihm eine Reihe von Gemälden und leonardesken Gesichtsstudien zugeschrieben worden, doch haben nur sehr wenige Werke der Stilkritik Stand gehalten.
Seidlitz wies auf die Verbindung der Profilstudien zu Werken der Mailänder Malerei vor 1500 hin. Das linke Profil der Zeichnung erinnerte ihn an den Kopf der Beatrice d’Este auf der sogenannten Pala Sforzesca (Mailand, Brera), auf dem Herzog Lodovico Sforza mit seiner Familie und den Kirchenvätern vor Maria dargestellt ist. Bei der Zeichnung in der Mitte erkannte er Ähnlichkeiten zu dem berühmten weiblichen Profilbildnis der Pinacoteca Ambrosiana in Mailand, in dem man ebenfalls den Kopf der Beatrice d’Este zu erkennen glaubte. Einen genauen zeichentechnischen Vergleich mit anderen Blättern des Künstlers führte Seidlitz nicht durch.
Seine Zuschreibung fand in der Folgezeit ein geteiltes Echo. Während Wilhelm Suida sie in seinen Arbeiten über die Leonardo-Schule nicht zur Kenntnis nahm, wurde sie im Kupferstichkabinett beibehalten und seit Jahrzehnten auch von anderen Forschern nicht mehr angezweifelt.(Anm.2)
Von Seidlitz’ Zuschreibung erweist sich als problematisch, da sie ausschließlich auf der ähnlichen gestalterischen Auffassung zwischen Zeichnung und Gemälden beruht. Übereinstimmend sind die Profilansicht sowie die Mode; beides Charakteristika, die in der Mailänder Malerei um 1500 keine Seltenheit darstellen, sodass eine Zuschreibung an Predis auf der Basis dieser Argumentation fraglich erscheint. Die stärksten Bezüge bestehen zur Pala Sforzesca, einem Gemälde, das bis heute keinem konkreten Maler zugeschrieben werden kann.
Entscheidender Schwachpunkt der Attribution ist, dass Seidlitz keine einzige vergleichbare Zeichnung des Künstlers anführt. Ambrogio ist tatsächlich als Zeichner bis heute kaum greifbar, da sich die mit ihm in Verbindung gebrachten Zeichnungen allesamt mit keinem Gemälde verbinden lassen. Unter diesen wird die Hamburger Zeichnung zumeist als Basis für eine Zuschreibung an den Künstler genommen, weil sie als unzweifelhaft gilt. So haben etwa auch Popham and Pouncey 1950 die Zuschreibung einer Profilstudie eines jungen Mannes in London an Ambrogio mit dem Hinweis auf das vermeintlich sichere Hamburger Blatt gestützt.(Anm.3) Vergleichbar ist, dass beide Zeichnungen mit Metallstift und Weißhöhungen auf gefärbtem Papier ausgeführt wurden. Dagegen stehen deutliche Unterschiede: So ist die Londoner Zeichnung etwas feiner angelegt, wohingegen der Grad der Durcharbeitung in Hamburg größer ist. Zudem sind die Papierfarben unterschiedlich. Die Ähnlichkeiten der beiden Blätter sind demnach sichtbar, aber nicht so weitgehend, dass zwingend von einer Hand auszugehen ist. Selbst wenn die Übereinstimmungen größer wären, würde dies noch keine sichere Zuschreibung an Ambrogio bedeuten, da sich ja für beide Blätter keine konkreten Zuordnungen zu ausgeführten Werken herstellen lassen.
Die Zuschreibung von Zeichnungen an Predis bleibt demnach zu einem gewissen Grade hypothetisch, da bislang keine einzige Zeichnung – und eben auch nicht das Hamburger Blatt – ihm unzweifelhaft zugewiesen werden kann.
Unstrittig ist sicherlich, dass die Zeichnung um 1500 im Mailänder Kunstkreis entstanden sein muss. Hierauf deutet nicht nur die bereits erwähnte damalige Vorliebe für Profilbildnisse in dieser Region hin. Auch die feine Silberstifttechnik und die Verwendung von bläulichem Papier verweisen auf die Lombardei. Die Studien des Hamburger Blattes sind mit solider, aber keineswegs überragender Technik ausgeführt. Vor allem die Modellierung der Gesichter ist relativ schematisch. Wenig schön wirken die kräftigen Konturlinien der Gesichter und des Kleides der rechten Frau, die möglicherweise für die Übertragung verstärkt wurden. Charakteristisch für den Hamburger Zeichner ist eine relativ starke Verwendung von feinen Weißhöhungen zur Erzielung von Plastizität. Leider befindet sich im Bereich der rechten Figur ein großer Wasserfleck, der die Gesamtwirkung der Zeichnung beeinträchtigt.(Anm.4)
Vergleicht man das Blatt mit Zeichnungen von anderen um 1500 in Mailand tätigen Künstlern, wie Leonardo, Boltraffio (Anm.5) oder den Maestro della Pala Sforzescanm.6), so sind diese hinsichtlich der feinen Silberstifttechnik und der Herausarbeitung von Plastizität qualitativ höher stehend. Hinzu kommt, dass z. B. Boltraffios Weißhöhungen dezenter angelegt sind.
Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass eine konkrete Zuordnung des Blattes schwierig ist. Angesichts der dünnen Beweislage muss eine Zuschreibung an Predis zumindest unter großem Vorbehalt erfolgen.
Darüber hinaus ist auch die genaue Benennung der Zeichnung strittig. Uneinigkeit herrscht darüber, wie viele verschiedene Frauen hier dargestellt sind. Schaar ging 1997 davon aus, dass es sich um Profilstudien einer Frau handelt. Setzt man beim Zeichner die Absicht voraus, physiognomisch individuell abzubilden, so sind Unterschiede in der Form der Lippen und Nasen sowie in der Stirnwölbung unverkennbar. Hugo Chapman schlug vor, dass der Künstler möglicherweise ein reales Porträt in idealtypischer Weise verschönert“ habe (Anm.7), indem er die auffällige, unklassische Nasenform der Frau links in der Figur rechts begradigte. Wahrscheinlicher erscheint jedoch, dass hier drei verschiedene Frauen dargestellt wurden.

David Klemm

1 Monuments des arts du dessin chez les peuples tant anciens que modernes recueillis par le baron Vivant-Denon (...) lithographiés par ses soins et sous ses yeux. Décrits et expliqués par Amaury Duval, 4 Bde., Paris 1829 unter der Nr. 74 b. Vgl. auch den Hinweis auf das Faksimile bei Rudolph Weigel: Die Werke der Maler in ihren Handzeichnungen. Beschreibendes Verzeichniss der in Kupfer gestochenen, lithographirten und photographirten Facsimiles von Originalzeichnungen grosser Meister, Leipzig 1865, S. 370, Nr. 4472; vgl. auch Le cabinet de M. Denon. Collectioneur e lithographe, bearb. v. Marie-Anne Dupuy-Vachey; Marie-Hélène Girard, Ausst.-Kat. Musée Denon, Chalons sur Saône, Avignon 2005, S. 14, 61–62.
2 Vgl. zuletzt Léonard de Vinci. Dessins et manuscrits, Ausst.-Kat. Paris, Musée du Louvre, Paris 2003.
3 London, British Museum, Department of Prints and Drawings, Inv.-Nr. 1895-9-15-614.
4 Der Fleck ist weder auf den Faksimiles von Denon noch in der Publikation von Seidlitz zu sehen; er ist erstmals 1927 in der Prestel-Mappe nachweisbar, sodass man annehmen muss, dass diese Beschädigung zwischen 1907 und 1927 in der Kunsthalle aufgetreten ist.
5 Williamstown, Sterling and Francine Clark Art Institute, Inv.-Nr. 1955.1470; Léonard de Vinci. Dessins et manuscrits, Ausst.-Kat. Paris, Musée du Louvre, Paris 2003, S. 346–347, Nr. 118.
6 Paris, Musée du Louvre, Département des Arts Graphiques, Inv.-Nr. 2416; Leonardo da Vinci Masterdraftsman, hrsg. v. Carmen Bambach, Ausst.-Kat. New York, The Metropolitan Museum of Art, New Haven, London 2003, S. 646–648, Nr. 123.
7 Mündliche Mitteilung auf der Grundlage einer Digitalphotographie, 18. 1. 2008.

Details zu diesem Werk

Beschriftung

Umfassungslinie (Feder in Schwarze ); unten rechts: Stempel der Sammlung Denon (L. 779); auf dem Verso unten links bezeichnet: "A. Verrocchio" (Bleistift); unten in der Mitte Stempel der Hamburger Kunsthalle (L. 1328)

Provenienz

Baron Dominique Vivant Denon (1747-1825), Paris (L. 779); Georg Ernst Harzen (1790-1863) Hamburg (L. 1244) NH Ad : 02 : 01, S. 222 (als Andrea Verrocchio, dabei Leonardo mit Vorsicht in Erwägung gezogen); NH Ad : 01 : 03, fol. 116 (als Andrea Verrocchio): "Halbfigur einer jungen Florentinerin deren Hand auf der Brust ruht, im Profil, nebst dem Profil des Kopfes in vergrößertem Maaßstab und dessen mehr ausgeführter Wiederholung. Ausgezeichnet schön mit Silberstift auf lichtblau grundirtem Papier ausgeführt und gehöht. an Trefflichkeit Lionardo nicht nachstehend. 7.7 5.1. Samml. Denon."; Legat Harzen 1863 an die "Städtische Gallerie" Hamburg; 1868 der Stadt übereignet für die 1869 eröffnete Kunsthalle

Bibliographie

Leonardo da Vinci in der Hamburger Kunsthalle, hrsg. von Klemm, David und Stolzenburg, Andreas im Auftrag der Hamburger Kunsthalle, Hamburg 2019, S.30, Nr.6, Abb.31

Gesichter der Renaissance. Meisterwerke italienischer Portrait-Kunst, hrsg. von Keith Christianse und Stefan Weppelmann, Ausst.-Kat. Gemäldegalerie Staatliche Museen zu Berlin 2011, S.262-263, Abb., Nr.105

Silke Reuther: Georg Ernst Harzen. Kunsthändlier, Sammler und Begründer der Hamburger Kunsthalle, hrsg. von Hamburger Kunsthalle und Hermann Reemtsma Stiftung, 2011, Abb.S. 226

David Klemm: Italienische Zeichnungen 1450-1800. Kupferstichkabinett der Hamburger Kunsthalle, Die Sammlungen der Hamburger Kunsthalle Kupferstichkabinett, Bd. 2, Köln u. a. 2009, S.304-305, Nr.444, Abb.Farbtafel S. 20

David Klemm: Von Leonardo bis Piranesi. Italienische Zeichnungen von 1450 bis 1800 aus dem Kupferstichkabinett der Hamburger Kunsthalle, hrsg. von Hubertus Gaßner, David Klemm und Andreas Stolzenburg, Ausst.-Kat. Hamburger Kunsthalle, Bremen 2008, S.38-39, Abb, S. 220, Nr.13

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Léonard de Vinci. Dessins et manuscrits, Ausst.-Kat. Paris 2003, S.335, 332, 353, Nr.109, Abb.336

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Petra Roettig, Annemarie Stefes, Andreas Stolzenburg: Von Dürer bis Goya. 100 Meisterzeichnungen aus dem Kupferstichkabinett der Hamburger Kunsthalle, Ausst.-Kat. Hamburger Kunsthalle 2001, S.16-17, Nr.3, Abb.

Giulio Bora: I leonardeschi e il disegno In: I leonardeschi. L’eredità di Leonardo in Lombardia. Ausst.-Kat., Mailand 1998, S.100, Abb.4.7., S. 97

Eckhard Schaar, David Klemm: Italienische Zeichnungen der Renaissance aus dem Kupferstichkabinett der Hamburger Kunsthalle, Ausst.-Kat. Hamburger Kunsthalle 1997, S.102-103, Nr.45, Abb.23

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Arthur E. Popham, Philipp Pouncey: Italian Drawings in the Department of Prints and Drawings in the British Museum. The Fourteenth and Fifteenth Centuries, London 1950, S.140, Nr.bei Nr. 227

William Suida: Artikel "Ambrogio de Predis", in: Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler, hrsg. von Ulrich Thieme, Felix Becker, Bd. 27, 1933,, S.369

Oskar Fischel: Dreizehnte Veröffentlichung der Prestel-Gesellschaft: Zeichnungen italienischer Meister in der Kunsthalle zu Hamburg, in: Kunst und Künstler XXIX, 1930/31, S. 480, S.480

Exhibition of Itallian Art 1200-1900, Ausst.-Kat. London, Royal Academy, London 1930, S.303, Nr.634

Arthur E. Popham: Italian Drawings exhibited at the Royal Academy, Ausst.-Kat. London, Royal Academy 1930, S.51, Nr.182, Abb.Taf. 155

Odoardo H. Giglioli: [Anmerkungen zur Prestel-Mappe], in: Cronache d`Arte, 5, 1928, , S.262

August Liebmann Mayer: Zeichnungen Alter Meister in der Kunsthalle zu Hamburg. Italiener, Pantheon Band II, 1928, S. 388, S.388, Abb.388

Gustav Pauli: Zeichnungen Alter Meister in der Kunsthalle zu Hamburg. Italiener. Neue Folge, Frankfurt am Main 1927, Abb.Taf. 11

Ludwig von Baldass: Die Bildnbisse Kaiser Maximilians I., in: Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses 31, Heft 5, 1923, S. 247-334, S.261

Woldemar von Seidlitz: Ambrogio de Predis und Leonardo da Vinci, in: Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses 26, 1906/07, , S.31, Nr.62, Abb.Taf. 2

Wilhelm Koopmann: Einige weniger bekannte Handzeichnungen Raffaels, in: Jahrbuch der Königlich Preußischen Kunstammlungen 12, 1891, S. 40-49, S.41