Die Zeichnung zeigt den Crepusculo, die Allegorie der Dämmerung, vom Grabmal des Lorenzo de’ Medici. Diese in der Grabkapelle der Medici in San Lorenzo in Florenz aufgestellte Liegefigur eines nackten Mannes schuf Michelangelo um 1526. Die Skulptur erlangte wie alle Werke des Künstlers große Bewunderung, was sich in zahlreichen Nachzeichnungen widerspiegelt.(Anm.1)
Die Hamburger Zeichnung wurde zunächst von Harzen aus nahe liegenden Gründen als Werk Michelangelos, später im Inventar der Kunsthalle als „in der Art des Meisters“ eingestuft. Giovanni Morassi zog – wohl in den 1920er Jahren – Baccio Bandinelli als Urheber in Erwägung.(Anm.2) Zwar erinnern die dicken Federstriche und der Verzicht auf Lavierung an dessen Zeichenstil, dennoch erscheint eine Zuschreibung aufgrund qualitativer Mängel nicht zwingend. Auffallend ist eine teilweise unstrukturierte, fast sorglose Linienführung. Vor allem die Schraffenverbände sind oft unsystematisch angelegt. Die Unsicherheit des Zeichners zeigt sich auch in mehreren gravierenden Pentimenti, so zum Beispiel am rechten Arm. Wichtige Kompositionselemente – so zum Beispiel die stoffliche Unterscheidung des linken Oberschenkels von dem darunter befindlichen Gewebe und Steinsockel – sind zeichnerisch wenig differenziert wiedergegeben.
Laut Rosenberg stimmt das Hamburger Blatt in motivischer und technischer Hinsicht mit einer Zeichnung im British Museum überein.(Anm.3) Diese trägt interessanterweise eine alte Aufschrift mit dem Namen Bandinellis, doch wurde das Blatt von Wilde lediglich allgemein in den Florentiner Kunstkreis um 1550 eingeordnet. Dieser Einschätzung kann in Bezug auf das Hamburger Blatt zugestimmt werden, wobei zumindest eine Entstehung im Umfeld Bandinellis in Erwägung gezogen werden sollte.(Anm.4)

David Klemm

1 Vgl. Rosenberg 2000.
2 Undatierter Hinweis auf Karteikarte.
3 London, British Museum, Department of Prints and Drawings, Inv.-Nr. 1946-7-13-367; Rosenberg 2000, S. 209, Nr. NZ 45; vgl. auch Johannes Wilde: Michelangelo and his studio. Italian Drawings in the Department of Prints and Drawings in the British Museum, London 1953, S. 129, Nr. 103.
4 Vgl. Rosenberg 2000, S. 209.