Anonym, Bologna (?), Anfang 18. Jahrhundert, Zeichner/in Pier Leone Ghezzi, Zeichner, ehemals zugeschrieben
Anonym, Bologna (?), Anfang 18. Jahrhundert, Zeichner/in Pier Leone Ghezzi, Zeichner, ehemals zugeschrieben
Das Blatt weist auf dem Recto Züge einer Karikatur auf, weshalb es seit langem Pier Leone Ghezzi zugeschrieben wurde. Diese Einschätzung ist sicher nicht haltbar, da Ghezzi einen völlig anderen Zeichenstil pflegte.(Anm.1)
Die Art der skizzenhaften Zeichenweise mit starker Lavierung findet sich bereits im 17. Jahrhundert bei satirischen Blättern und ist von Künstlern wie Mola, Bernini und Guercino auf höchstem Niveau angewandt worden. Diese Richtung wurde auch im 18. Jahrhundert fortgeführt, z. B. von dem Bolognesen Giovanni Antonio Burrini (1656–1727). Diesem wird eine Serie von stark lavierten Karikaturen zugeschrieben. Allerdings ist bei ihm im Vergleich zum Hamburger Blatt eine deutlichere Konturierung der Figuren erkennbar.(Anm.2) Simonetta Prosperi Valenti Rodinò bestätigte den Einfluss von Burrini und hält auch eine Entstehung in Bologna für wahrscheinlich.(Anm.3) So handelt es sich wohl um einen bislang noch nicht näher bestimmbaren Zeichner in der Nachfolge Burrinis.
Die Szene ist schwer zu deuten. Erkennbar ist ein Straßenhändler, der offensichtlich Neuigkeiten unter das Volk bringt. Den Witz des Blattes macht die kontrastreiche Gegenüberstellung des volkstümlichen Händlers mit dem stutzerhaften, lächerlich wirkenden Mann aus. Seltsam wirkt in diesem Zusammenhang der kleine bocksbeinige Junge, der die Szene aus der Realitätsebene hebt. Eine genauere Interpretation ist nicht möglich, da im oberen Bereich eine dort mit großer Wahrscheinlichkeit ehemals vorhandene Beschriftung aus einer hochgehaltenen Tafel herausgeschnitten worden ist. Dass sich dort eine Inschrift oder ein Bild befand, ist daran erkennbar, dass der Stutzer eine Sehhilfe benutzt. Stubbe hat vermutet, dass sich dort eine Karikatur des Stutzers befand, die dann einer möglichen Zensur zum Opfer fiel.(Anm.4)
Das Verso ist in ähnlich großzügigen Tuschezügen gezeichnet wie das Recto. Es handelt sich in strengem Sinne um keine satirische Zeichnung, auch wenn die betont realistische Darstellung der alten Frau dieses Genre streifen mag.
David Klemm
1 Janos Scholz hielt das Blatt für eine grobe Nachahmung. Notiz in der Gernsheim-Kartei im Archiv des Kabinetts.
2 Zu Burrini vgl. Eugenio Riccòmini: Giovanni Antonio Burrini, Pittori d’Italia 2, hrsg. v. Milena Naldi, Marco Riccòmini, Bologna 1999, S. 227–228, Nr. 26–31, Nr. 122–127.
3 Mündliche Mitteilung auf der Grundlage einer Digitalphotographie vom 1. 4. 2008.
4 Italienische Zeichnungen 1500-1800, bearb. v. Wolf Stubbe, Ausst.-Kat. Hamburger Kunsthalle, Hamburg 1957, S. 31, Nr. 166.
Details zu diesem Werk
Beschriftung
Wasserzeichen / Kettenlinien
WZ: Buchstabenkombination „…[?] AW“ mit dreiblättrigem Kleeblatt darüber; nicht identifiziert.
Verso
Titel verso: Kopf einer alten Frau
Technik verso: Pinsel, weiß gehöht
Provenienz
Wahrscheinlich zwischen 1869 und 1886 durch Schenkung oder Erwerbung aus unbekannter Quelle in den Besitz der Kunsthalle gelangt
Bibliographie
David Klemm: Italienische Zeichnungen 1450-1800. Kupferstichkabinett der Hamburger Kunsthalle, Die Sammlungen der Hamburger Kunsthalle Kupferstichkabinett, Bd. 2, Köln u. a. 2009, S.445-446, Nr.721
[Wolf Stubbe]: Italienische Zeichnungen 1500-1800. Ausstellung aus den Beständen des Kupferstichkabinetts, Ausst.-Kat. Hamburger Kunsthalle 1957, S.31, Nr.166