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Philipp Otto Runge

Scherenschnitte

Als eine Verlängerung seiner Finger hat Philipp Otto Runge die Schere empfunden, und nach dem Zeugnis seines Bruders Daniel erkannte die Familie seine Berufung zum Künstler durch die Scherenschnitte, die er »seit allerfrühester Jugend« wie von selbst entstehen ließ.

Tatsächlich erfordert das Scherenschneiden eine besondere Kraft der Bildvorstellung, da es ein Ganzes hervorbringen muss, bei dem kein Zusammensetzen oder Korrigieren möglich ist.

Der helle Papierschnitt wurde in Deutschland seit dem 17. Jahrhundert praktiziert, doch haben Runges Scherenschnitte ihren Ursprung auch in den schwarzen Bildnis-Silhouetten, wie sie, der Zeitmode gemäß, im Familienkreis gepflegt wurden. Wie diese sind Runges frühe Genre­ und Tierszenen als Ausdrucks- und Gebärdenstudien im Zusammenhang mit Lavaters zeitgenössischen Untersuchungen von Physiognomie und Charakter zu verstehen. Sie erweisen früh seine Fähigkeit zur formalen Verdichtung und seine Neigung zur linearen Übersteigerung bis hin zur Karikatur.

Sind die figürlichen Scherenschnitte angeregt von Alltagserlebnissen und bildlichen Vorlagen wie dem »Wandsbecker Boten« von Matthias Claudius, so sind die danach, wohl seit etwa 1795 zu datierenden Blumen und ornamentalen Pflanzengebilde gleichsam botanisierend, aufgrund genauen Studiums aus freier Hand geschnitten. Besonders sie erweisen, daß das Scherenschneiden für Philipp Otto Runge nach den Worten seines Bruders eine gleichsam »plastische Kunstübung« war: Was er in den Zeichnungen durch an- und abschwellende Linien zu suggerieren wusste, erreichte er in den Papierschnitten durch den reinen Umriss der leeren weißen Form, die der Imagination des Betrachters Raum gibt.

Runges Scherenschnitte sind innerhalb seines Werkes eigenständig, gleichwertig seinen Zeichnungen und Gemälden, doch ihnen analog, und zugleich zu verstehen als Teil seiner Idee vom universalen Kunstwerk. Sie fanden Anwendung als Tapetenborten, Leuchter­gehänge, Stickvorlagen, aber in ihrer Gestalt sind sie unmittelbarer Ausdruck seines bild­nerischen Denkens: Jeder von Runges Pflanzen-Schnitten ist nicht Fragment, sondern in sich gewächshafte »Totalform«, wie der Künstler umgekehrt seine symbolischen Kompositionen als »Totalform« wie ein Gewächs auffassen wollte. Sein Postulat, das Kunstwerk solle dem »Naturprodukt« gleichkommen, hat er in den Scherenschnitten geradezu handgreiflich erfüllt.