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Anonym, Oberitalien, 2. HĂ€lfte 16. Jahrhundert
Kompositionsstudien,
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Anonym, Oberitalien, 2. HĂ€lfte 16. Jahrhundert

Kompositionsstudien,

Anonym, Oberitalien, 2. HĂ€lfte 16. Jahrhundert

Kompositionsstudien

Das vorliegende Blatt mit zahlreichen Menschenstudien zĂ€hlt zu den seltsamsten italienischen Zeichnungen im Kupferstichkabinett. Das Recto weist mehrere Motive auf. Zu erkennen sind links eine Gruppe Ă€lterer MĂ€nner, oben eine Gruppe von teils auffahrenden, teils abstĂŒrzenden Menschen, unten mehrere Putti. Diese drei unterschiedlichen Motivkreise sind, wie Gode KrĂ€mer treffend bemerkte, von dem Zeichner offenbar aus jeweils grĂ¶ĂŸeren ZusammenhĂ€ngen ausgeschnitten und zusammengesetzt worden, indem er sie durch auf der RĂŒckseite aufgeklebte winkelförmige Papierstreifen verband.(Anm. 1) Dass dies vom Zeichner selbst vorgenommen wurde, beweisen die eigenhĂ€ndigen Überzeichnungen der Schnittstellen. Welche Funktion mit dieser Montierung verbunden gewesen ist, bleibt unklar. Auf jeden Fall ist das kĂŒnstlerische Ergebnis wenig ĂŒberzeugend.
Die Gruppe der Alten links weist keinen eindeutigen ikonographischen Zusammenhang auf. Abgesehen von einem Hieronymus-Typus rechts handelt es sich durchgehend um bekleidete, mĂ€nnliche Gestalten, die in argumentierender, nachdenklicher oder aufblickender Pose dargestellt sind. Da einige von ihnen BĂŒcher halten, hat Gode KrĂ€mer vermutet, dass es sich um Propheten- oder Apostelfiguren handeln mĂŒsse. Als Thema kĂ€men daher eine Himmelfahrt Mariens oder Ă€hnliche Wunderdarstellungen in Frage. Gegen diese Ansicht spricht, dass bei der Himmelfahrt Mariens in der Regel nicht so viel sitzende und studierende, sondern zumeist stehende und erstaunte Apostel dargestellt werden. Die von KrĂ€mer vorgeschlagene Alternative, hier die Szene „Christus unter den Schriftgelehrten“ zu sehen, ist plausibler. KrĂ€mer hat als Vergleich ein Bild von Antonio Vassilaschi, gen. l’Aliense (1556–1629) in S. Pietro in Perugia angefĂŒhrt, dessen Gestalten und Typen mit denen der vorliegenden Zeichnung verwandt sind.(Anm. 2) Hierzu passen allerdings die hinaufschauenden MĂ€nner nicht. Wahrscheinlich handelt es sich bei der Gruppe um eine Versammlung von Gelehrten, die sich mit philosophischen oder wissenschaftlichen Problemen befassen. Wie weit die Spannbreite reicht, verdeutlichen der Astronom mit HimmelsphĂ€re links oben und der sitzende lorbeerbekrönte Literat unten. Es erscheint daher denkbar, dass der anonyme KĂŒnstler hier eine eigene Variante von Raffaels berĂŒhmter „Schule von Athen“ entworfen hat.
Schwierig ist auch die Deutung der rechts anschließenden Gruppe. Zu sehen sind zahlreiche nackte Menschenkörper, die teils in einer AufwĂ€rtsbewegung, teils im Fallen dargestellt sind. Eine von KrĂ€mer hergestellte Beziehung zu Michelangelos Cascina-Karton ist allenfalls allgemeiner Art. Unzweifelhaft dĂŒrfte es sich hier um eine Darstellung des „JĂŒngsten Gerichts“ handeln. Wie ein Fremdkörper wirkt dabei die bekleidete Frau im verlorenen Profil links am Übergang zur Gruppe der Alten. Dieser Typus findet sich in der venezianischen Malerei des 16. Jahrhunderts hĂ€ufig. Schwer einzuordnen ist letztlich auch die Gruppe der Putti. Ein Vorbild konnte bislang nicht benannt werden.
Die StrichfĂŒhrung der Fragmente verrĂ€t eine genauere Kenntnis des menschlichen Körpers. Sie ist, wie KrĂ€mer treffend bemerkte, charakterisiert durch rasche, aber stofflich exakte AbkĂŒrzungen und lange Konturlinien. KrĂ€mer hat eine Zeichnung im Berliner Kupferstichkabinett benannt, die in Zeichenstil und Figurendarstellung dem Hamburger Blatt verwandt ist.(Anm. 3) Dennoch ist eine Bestimmung des KĂŒnstlers nicht möglich.
FĂŒr die Lokalisierung und Datierung der Zeichnung auf dem Recto gibt vor allem die Beschriftung rechts oben auf dem Verso Auskunft. Darin berichtet eine anonyme Person, dass sie fĂŒr Paolo Caliari, genannt Veronese, die Kopie eines Abendmahls angefertigt habe. Da unter dem Briefentwurf links zudem der Name „Paolo Caliari“ zu entziffern ist, bestehen BezĂŒge zur Malerei Oberitaliens der zweiten HĂ€lfte des 16. Jahrhunderts.
Die Figurenstudien auf dem Verso lassen sich kaum mit denen auf dem Recto in Verbindung bringen. Die beiden in dunklerer Tusche bzw. mit schwarzem Stift gezeichneten Darstellungen eines Oberkörpers und eines Beines (unten rechts) scheinen von einer Hand zu sein; der in hellerem Grau gezeichnete Arm dagegen könnte von einem anderen KĂŒnstler stammen. FĂŒr eine genauere Zuordnung zu GemĂ€lden oder Fresken sind die Körperteile im Ausschnitt zu klein. KrĂ€mer hat fĂŒr den Oberkörper eine recht Ă€hnliche Formulierung auf einem Veronese zugeschriebenen GemĂ€lde mit Johannes dem TĂ€ufer in Verbosca erkannt.(Anm. 4)

David Klemm

1 Die folgenden ErlĂ€uterungen gehen wie die Entzifferung der schwer lesbaren Verso-Beschriftung in wesentlichen Punkten auf Gode KrĂ€mers Untersuchung von 1971 zurĂŒck.
2 Giorgia Boccassini: Profilo del’Aliense, in: Arte Veneta 12, 1958 [erschienen 1959], S. 111-125, S. 111f.
3 Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett, KdZ 22085; die Zeichnung wird als Kopie nach Veroneses „Marienkrönung“ in der Accademia in Venedig eingeordnet.
4 Grgo Gamulin, Il Politico di Paolo Veronese a Verbosca, in: Arte Veneta 9, 1955, S. 86-91, S. 86–91, Abb. 100 u. 104.

Details zu diesem Werk

Beschriftung

Auf dem Verso bezeichnet: lÀngerer italienischer Text (Feder in Braun): "Ho ricevuto da[?] Paolo Caliari lire ottanta qua .../per coprir del Cenaccolo che[?] .../dacordo in scudi cento ..."; auf dem Passepartout unten in der Mitte Stempel der Hamburger Kunsthalle (nicht bei L., in Gebrauch seit ca. 1963)

Verso

Titel verso: Figurenstudien

Technik verso: Feder in Schwarz und in Braun, schwarzer, nicht ganz verwischter Stift

Provenienz

Am 12. Mai 1978 aus der Graphischen Sammlung des Museums fĂŒr Kunst und Gewerbe Hamburg ĂŒbernommen (ehem. Inv. Nr. 1968/200).

Bibliographie

David Klemm: Italienische Zeichnungen 1450-1800. Kupferstichkabinett der Hamburger Kunsthalle, Die Sammlungen der Hamburger Kunsthalle Kupferstichkabinett, Bd. 2, Köln u. a. 2009, S.405-406, Nr.619

Gode KrĂ€mer: Handzeichnungen aus den Graphischen Sammlungen des Museums fĂŒr Kunst und Gewerbe, in: Jahrbuch der Hamburger Kunstsammlungen 16, 1971, S. 51-78, S.55-58, Abb. (recto und verso)