Anonym, Florenz, 2. Hälfte 15. Jahrhundert
Akt eines Jünglings mit erhobenem linkem Arm,
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Anonym, Florenz, 2. Hälfte 15. Jahrhundert

Akt eines Jünglings mit erhobenem linkem Arm,

Anonym, Florenz, 2. Hälfte 15. Jahrhundert

Akt eines Jünglings mit erhobenem linkem Arm

Die Zeichnung eines nackten stehenden Mannes weist eine wechselhafte Forschungsgeschichte auf, ohne dass bis heute eine voll befriedigende Zuschreibung gelungen ist. Harzen erwarb das Blatt aus dem Nachlass von Samuel Woodburn, der es Antonio Pollaiuolo zugeschrieben hatte. Harzen blieb bei dieser Einschätzung und fühlte sich angesichts des schlanken Körperbaus an Pollaiuolos Figuren am Grabmal des Papstes Sixtus IV. erinnert. Die Zuschreibung wurde zunächst im Kabinett beibehalten und auch von Koopmann 1891 und Ulmann 1894 anerkannt. Später wurde die Aufmerksamkeit auf den Umkreis Filippino Lippis gelenkt; dieser Einschätzung folgte auch Stubbe 1957. Schaar schrieb das Blatt 1997 Lippi ohne Zweifel zu. Berenson hatte dagegen 1938 mit Francesco Granacci einen Zeitgenossen Lippis vorgeschlagen, wohingegen Ruhmer 1971 den vornehmlich in Arezzo tätigen Bartolommeo della Gatta zur Diskussion stellte. Er verband die Zeichnung mit dessen Gemälde des „Hl. Rochus“ in Arezzo. Beide Werke standen für ihn in Typus, Pose, Ausdruck, Formauffassung und Handschrift so eng zusammen, dass ihre gemeinsame Herkunft für ihn unstrittig war. Damit schien ihm für die Kenntnis des bis dahin kaum greifbaren Zeichners della Gatta ein erster Grundstein gelegt. Diese Meinung konnte sich jedoch in der Folgezeit nicht durchsetzen. Stattdessen wurde das Blatt wieder stärker mit der Florentiner Zeichenkunst in Verbindung gebracht, einzig Alessandro Nova stellte mit Vorsicht eine oberitalienische Herkunft zur Diskussion.(Anm.1) Mit dieser Einschätzung stimmt eine undatierte, angeblich von Berenson stammende Bemerkung im Archiv des Kabinetts überein, die Bramantino oder jedenfalls einen Mailändischen Künstler vorschlägt. In diesem Zusammenhang ist eine Beobachtung von Ragghianti/Dalli Regoli von Interesse. Sie verwiesen auf die Ähnlichkeit des Blattes mit einer Studie Leonardos auf Schloss Windsor (Anm.2), die zu dessen anatomischen Zeichnungen gehört. Körpertyp und zeichnerische Behandlung sind ähnlich, doch es stimmen keine weiteren Merkmale soweit überein, dass man auf dem Hamburger Blatt die Hand Leonardos oder eines Zeichners aus seinem direkten Umfeld erkennen könnte.
Stärkere Ähnlichkeit weist das Blatt mit einer von Ragghianti/Dalli Regoli 1975 zusammengestellten Gruppe von Aktstudien auf, von denen sich drei Blätter in den Uffizien und eines im Louvre befinden.(Anm.3) Auffallend ist die motivische Ähnlichkeit der langgliedrigen, relativ mageren Körper, deren Knochen, Muskeln, Sehnen und Adern unter der dünnen Haut erkennbar sind. Generell ist auch die minutiöse und feine Zeichentechnik identisch. Allerdings ergibt ein genauer Vergleich mit dem Männerakt Uffizien 258 E, dass deutliche Detailunterschiede bestehen. Generell ist die Florentiner Zeichnung feiner ausgeführt. Die Schraffuren sind durchgehend mit präziser Subtilität gesetzt, während diese Partien in Hamburg etwas gröber behandelt erscheinen. Auch die Weißhöhungen sind in Hamburg in größerer Stärke aufgetragen. Eine Eigenheit der Hamburger Zeichnung ist das Verwenden der Feder besonders zur Konturierung, wodurch eine andere Bildwirkung entsteht. Die wenig homogene Gesamtwirkung wird durch die Schrift verstärkt, die sich – anders als Berenson annahm – bereits vor der Zeichnung auf dem Blatt befand.(nm.4)
Größere Ähnlichkeit besteht zu dem Blatt 254 E in den Uffizien, das ebenfalls etwas grob mit Weiß gehöht ist. In beiden Fällen könnte dies auf nachträgliche Überarbeitungen zurückzuführen sein. Auch ähnelt die Konturführung dieses Blattes der auf der Hamburger Zeichnung.
Interessant ist, dass die Blätter in den Uffizien mit der zeitweiligen Zuweisung an Antonio oder Piero Pollaiuolo und Francesco Granacci eine ähnliche Zuschreibungsgeschichte wie das Hamburger Blatt aufweisen. Gemeinsam wurden diese Zeichnungen von Ragghianti/Dalli Regoli wieder in die Nähe Pollaiuolos gerückt. Sisi schrieb 1992 das Florentiner Blatt 258 E unter Vorbehalt Andrea del Verrocchio zu.(Anm.5) Hierfür spricht u. a. eine Kombination von naturalistischen Effekten und antiken Reminiszenzen, die für Verrocchio gut denkbar ist.
Es läge daher nahe, auch das Hamburger Blatt zumindest in den Verrocchio-Umkreis zu stellen. Da eine Zugehörigkeit angesichts der oben skizzierten zeichentechnischen Unterschiede jedoch keineswegs sicher ist, erscheint es sinnvoller, es als anonyme Zeichnung aus dem Florentiner Kunstkreis des letzten Drittels des 15. Jahrhunderts zu führen. Die Haltung der Figur deutet darauf hin, dass die Studie der Ideenfindung einer Sebastian-Darstellung diente.(Anm.6)

David Klemm

1 Mündliche Mitteilung, Dezember 2006.
2 Windsor Castle, Royal Library, Inv.-Nr. 12637¸ The Drawings of Leonardo da Vinci in the Collection of Her Majesty the Queen at Windsor Castle, bearb. v. Kenneth Clark unter Mitarbeit v. Carlo Pedretti, 3 Bde., The Italian Drawings at Windsor Castle, hrsg. v. Anthony Blunt, London 1968, I, S. 133–133.
3 Florenz, Gabinetto Disegni e Stampe degli Uffizi, Inv.-Nr. 254 E; Inv.-Nr. 258 E, Inv.-Nr. 1155 E; Paris, Musée du Louvre, Département des Arts Graphiques, Inv.-Nr. 2677. Vgl. Carlo L. Ragghianti, Gigetta Dalli Regoli: Firenze 1470-1480. Disegni dal Modello, Pisa 1975, S. 134ff.
4 Vgl. Bernard Berenson: The Drawings of the Florentine Painters. Amplified Edition, 3 Bde., Chicago 1938, II, S. 105. Deutlich sind z. B. die feinen Weißhöhungen über die Schriftzeichen gesetzt.
5 Il Disegno Fiorentino del Tempo di Lorenzo il Magnifico, hrsg. v. Annamaria Petrioli Tofani, Ausst.-Kat. Florenz, Gabinetto Disegni e Stampe degli Uffizi, Mailand 1992, S. 46–47, Nr. 2.5 (Beitrag Carlo Sisi).
6 Dies vermutete bereits Bernard Berenson: The Drawings of the Florentine Painters. Amplified Edition, 3 Bde., Chicago 1938, II, S. 105.

Details zu diesem Werk

Beschriftung

Alte Beschriftung, laut Ragghianti/Dalli Regoli aus dem späten Quattrocento (Feder in Braun, um 90 Grad nach links gedreht), nur partiell lesbar, so z. B. im Bereich des Kopfes: "A me datto nel di d'agosto lire venti soldi otto a fiorino picciolo." (nach Ragghianti/Dalli Regoli 1975, S. 137); auf dem Verso: Inschrift (Feder in Braun); unten links: Stempel der Sammlung Dimsdale (L. 2426); rechts davon: Stempel der Hamburger Kunsthalle (L. 1328)

Provenienz

Thomas Dimsdale (1758-1823), London (L. 2426); Samuel Woodburn (1786-1853), London (L. 2588); auf dessen Nachlaßauktion 1854 in London (Lugt Ventes 21988, S. 36, Nr. 783) von Georg Ernst Harzen (1790-1863), Hamburg (L. 1244) als Antonio Pollaiuolo erworben (NH Ad : 03 : 16, Sp. 12); NH Ad : 02 : 01, S. 218 (als Antonio Pollaiuolo); NH Ad : 01 : 03, fol. 103 (als Antonio Pollaiuolo): "Eine stehende männliche Figur von schlanker Proportion, unbekleidet; ein Arm erhoben. Silberstift und Feder auf violett grundirtem Papier aus einem alten Rechnungsbuch, weiß gehöht. Die übertrieben langen Proportionen erinnern an die Figuren des Mausoleums Sixtus IV. Br 3.6-4.0 H. 10.5. Samml. Dimsdale"; am Rand: "Pinturrichio"; Legat Harzen 1863 an die "Städtische Gallerie" Hamburg; 1868 der Stadt übereignet für die 1869 eröffnete Kunsthalle

Bibliographie

Lorenza Melli: Verrocchio. Sculptor an painter of Renaissance Florence, Ausst.-Kat. National Gallery of Art, Washington D.C. 2019, S.295-297, Abb., Nr.48

David Klemm: Italienische Zeichnungen 1450-1800. Kupferstichkabinett der Hamburger Kunsthalle, Die Sammlungen der Hamburger Kunsthalle Kupferstichkabinett, Bd. 2, Köln u. a. 2009, S.382-383, Nr.580

Eckhard Schaar, David Klemm: Italienische Zeichnungen der Renaissance aus dem Kupferstichkabinett der Hamburger Kunsthalle, Ausst.-Kat. Hamburger Kunsthalle 1997, S.95-96, Nr.31, Abb.26

Il Disegno Fiorentino del Tempo di Lorenzo il Magnifico, hrsg. von Annamaria Petrioli Tofani, Mailand 1992, S.46

Carlo L. Ragghianti, Gigetta Dalli Regoli: Firenze 1470-1480. Disegni dal Modello, Pisa 1975, S.65, 78, 82, 134, 137, Nr.208, Abb.Abb. 269 auf S. 295

Eberhard Ruhmer: Eine Madonna des Bartolomeo Della Gatta. Studi di Storia dell`Arte in Onore di A. Morassi, Venedig 1971, S.82-84

[Wolf Stubbe]: Italienische Zeichnungen 1500-1800. Ausstellung aus den Beständen des Kupferstichkabinetts, Ausst.-Kat. Hamburger Kunsthalle 1957, S.13, Nr.38

Bernard Berenson: The Drawings of the Florentine Painters. Amplified Edition, Bd. 2, Chicago 1938, S.105, Nr.982 c

Hermann Ulmann: Bilder und Zeichnungen der Brüder Pollajuoli, in: Jahrbuch der Preußischen Kunstsammlungen 15, 1894, , S.242

Wilhelm Koopmann: Einige weniger bekannte Handzeichnungen Raffaels, in: Jahrbuch der Königlich Preußischen Kunstammlungen 12, 1891, S. 40-49, S.41

Catalogue of the Highly interesting and important Collection of Drawings, by Ancient Masters ... comprising the entire Collection .. The Property of that well-known Judge of the Fine Arts, Samuel Woodburn, Esqu., Deceased, which will be sold by Auction, Juni 1854, Christie and Manson, London 1854, S.36, Nr.783