Der gebürtige Niederländer Leonard Thiry verbrachte den größten Teil seines Lebens in Fontainebleau, wo er als „Léon Davent“ zu den produktivsten Stechern der Schule von Fontainebleau gehörte.(Anm.1) Ein zeichnerisches Œuvre ließ sich bislang nur in Ansätzen rekonstruieren.(Anm.2) Größere Werkkomplexe befinden sich in Leiden und der École des Beaux-Arts in Paris, denen sich unser Blatt, das bereits im 19. Jahrhundert als Werk des Léon Davent geführt wurde, in Ausführung und Figurenbildung grundsätzlich anschließen lässt.(Anm.3) Kennzeichnende Stilmerkmale sind feine Konturen und flächig abschattierte Volumina sowie die in der Profilansicht eckig abgestuften Konturen von Nase, Mund und Kinn. Als weitere Eigenart kann die mit Pinsel einseitig verstärkte Körperkontur bewertet werden, wie sie hier auf der Recto-Darstellung zu beobachten ist.(Anm.4)
Der malerische Gesamteindruck erklärt sich vielleicht aus der Nähe zu Francesco Primaticcio (1504–1570), mit dem Thiry zwischen 1537 und 1545 in Fontainebleau zusammenarbeitete. So soll unter Vorbehalt an der traditionellen Zuschreibung festgehalten werden. Die nicht sicher eigenhändige Verso-Studie – zaghaft in der Linienführung, mit zahlreichen Pentimenti – reflektiert in den sparsam eingestreuten kurzen Schraffen an Kinn und Hals dennoch eine persönliche Eigenart des Zeichners Thiry.(Anm.5)

Annemarie Stefes

1 Zu der Gleichsetzung beider Künstler vgl. Henri Zerner: Die Schule von Fontainebleau. Das graphische Werk, Wien u. München 1969, S. 22 und RKD artists.
2 Darunter befinden sich so unterschiedliche Blätter wie der in Deckfarben ausgeführte „Christus auf dem Weg nach Golgatha“, London, British Museum, Department of Prints and Drawings, Inv.-Nr. 1885,0711.267, oder die „Schmiede des Vulkan“ in Florenz, Gabinetto Disegni e Stampe degli Uffizi, Inv.-Nr. S 403, Sylvie Béguin: Quelques remarques à propos des échanges entre la Flandre, Rome, Fontainebleau et Paris, in: Bollettino d'arte (Fiamminghi a Roma 1508-1608. Atti di Convegno Internazionale Bruxelles 24-25 febbraio 1995), hrsg. von Nicole Dacos, 1997, S. 231-246, Abb. 6.
3 Vgl. die in Leiden verwahrte Gruppe von Stichvorlagen zur Jason-Sage, Prentenkabinet der Universiteit, Inv.-Nr. PK-T-1967 bis PK-T-1988; für die Schattierung vgl. Zeichnungen in Paris, École Nationale Supérieure des Beaux-Arts, z. B. „Venus und Mars, von Vulkan überrascht“, Inv.-Nr. Mas. 1230, Le Dessin en France au XVIe siècle. Dessins et miniatures des collections de l’École des Beaux-Arts, bearb. v. Emmanuelle Brugerolles, Ausst.-Kat. Paris École nationale superieure des Beaux-Arts, Cambridge (Mass.), Fogg Art Museum, New York, Metropolitan Museum of Art 1994/1995, Nr. 38, oder die „Erziehung des Achill“, Paris, École des Beaux-Arts, Inv. Nr. 386, Peter Smith: Fontainebleau: l’art en France 1528-1610, Ausst.-Kat. Ottawa, National Gallery of Canada, Ottawa 1973, Nr. 61.
4 Vgl. mit den skizzenhaften Zeichnungen in Paris, École Nationale Supérieure des Beaux-Arts, Inv.-Nr. Mas. 1233 und Inv.-Nr. Mas. 1231, Le Dessin en France au XVIe siècle. Dessins et miniatures des collections de l’École des Beaux-Arts, bearb. v. Emmanuelle Brugerolles, Ausst.-Kat. Paris École nationale superieure des Beaux-Arts, Cambridge (Mass.), Fogg Art Museum, New York, Metropolitan Museum of Art 1994/1995, Nr. 39, 40.
5 Vgl. mit den unter Anm. 3 aufgeführten Zeichnungen in Leiden.