Kapitel der Ausstellung

Die Malerei erlebte im 17. Jahrhundert in den Niederlanden im Zuge der wirtschaftlichen Entwicklung einen großen Aufschwung. Dabei erfuhr die Genremalerei aufgrund ihrer sehr realitätsnah wirkenden Darstellungen bei wohlhabenden Bürgern und Kaufleuten eine hohe Wertschätzung. Beliebt waren die eleganten, atmosphärischen Interieurs und familiären Szenen der Delfter Feinmaler sowie die überspitzten, ironischen Schilderungen des bäuerlichen Milieus und zügellosen Treibens der einfachen Leute. Ein weiterer wesentlicher Teil der Präsentation ist übergeordneten Aspekten gewidmet und skizziert anhand von soziokulturellen Entwicklungen und politischen Hintergründen die niederländische Gesellschaft des 17. Jahrhunderts, die die ausgewählten Künstler in ihren Gemälden scheinbar abbildeten. Darüber hinaus bewertet die Ausstellung mit gesellschaftskritischen Fragestellungen des 21. Jahrhunderts die Darstellungen und verknüpft sie mit unserer eigenen Lebenswirklichkeit. In der Ausstellung treffen die Werke der niederländischen Meister auf Arbeiten von Stefan Marx und Lars Eidinger. Die beiden Künstler reflektieren die Themen und Motive, stellen sie in einen größeren Kontext und heben dadurch traditionelle Grenzen auf. Durch diese auf den ersten Blick ungewöhnliche Gegenüberstellung entsteht ein spannender Dialog, der in seiner Wechselwirkung neue Blicke und Sichtweisen auf die Kunst der Alten Meister ermöglicht. 

 

Die Darstellung der Frau

Der gesellschaftliche Wandel in den Nördlichen Niederlanden spiegelt sich auch in einer Neubewertung von Ehe und familiärem Zusammenleben wider. Der niederländische Volksdichter Jacob Cats beschrieb 1664 beispielhaft den Alltag der Familien sowie die Rolle der Frau als vor allem tugendhafte Hausfrau. Das bürgerliche Idyll wird in der Folge zu einem beliebten Sujet. Dies geht einher mit einer Aufwertung der Aufgaben der Frau und ihrer Darstellung. Sie bildet den Mittelpunkt der Familie und wird als tugendhafte Tochter und Ehefrau, tüchtige Hausfrau und liebevolle Mutter dargestellt, die aktiv Anteil am Leben ihres Kindes nimmt. Ebenso wird sie als junge Mutter zurückgezogen beim Stillen ihres Kindes gezeigt. Dieses Thema ist neu in der Malerei. Üblicherweise wurden die Neugeborenen aus den wohlhabenden Bürgerfamilien bis ins 19. Jahrhundert zur Versorgung Ammen übergeben. Auch die Kindererziehung wird nun zu einem wichtigen Motiv: Fürsorglich unterrichtet die Mutter ihre Kinder im Laufen oder Lesen. Darüber hinaus geht die Ehefrau als Hausfrau zahlreichen alltäglichen Arbeiten nach – Nähen, Stricken oder die Arbeit am Webstuhl sind als Sinnbilder weiblicher Tugend beliebte Bildthemen.

Der Brief

Seit Mitte der 1650er-Jahre nahm der Brief als Motiv innerhalb des bürgerlichen Genres eine herausgehobene Stellung ein. Dies war eine Folge seiner zunehmenden Bedeutung als Kommunikationsmittel der gebildeten niederländischen Gesellschaft. Die schriftliche Korrespondenz wurde ein wichtiges Mittel zum privaten Gedankenaustausch sowie zum Übermitteln von geschäftlichen Nachrichten. Es entstand eine regelrechte Kultur des Briefschreibens. Populäre Handbücher wie Le Secrétaire à la mode des französischen Schriftstellers Jean-Puget de la Serre boten Hilfestellungen beim Formulieren von Liebes-, Geschäfts- oder Kondolenzbriefen. Teilweise beinhalteten sie ganze Musterbriefe, die den Verfassern bei Bedarf dabei halfen, den richtigen Ton zu treffen. Pieter de Hooch malte verschiedene Varianten des Briefthemas, vom Schreiben und der Übergabe bis hin zum Lesen. Überwiegend wurden Frauen in ruhiger, stimmungsvoller Atmosphäre beim Empfangen und Lesen von Briefen in eleganten Interieurs dargestellt. Häufig bleibt der Inhalt der Nachrichten unbekannt, doch können versteckte Symbole oder das Bild im Bild Hinweise auf den teilweise pikanten oder traurigen Gehalt der Briefe liefern.

Die elegante Gesellschaft

Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung in den Nördlichen Niederlanden veränderte sich auch die Gesellschaft. Die Bevölkerung wuchs schnell an. Innerhalb kurzer Zeit bildete sich in den Städten eine Schicht von vermögenden Kaufmannsfamilien und Privatleuten, die sich einen aufwendigen Lebensstil leisten konnte. Die wohlhabenden Bürger erwarben Häuser, die sie mit Kunstwerken, Porzellan und teurem Mobiliar sowie Tapisserien schmückten. Sie kleideten sich in edle Stoffe, besaßen Statussymbole und stellten ihren Wohlstand und ihre Stellung offen zur Schau. Elegante, atmosphärische Interieurszenen mit an Tischen sitzenden Frauen und Männern von Pieter de Hooch oder Gerard ter Borch waren bei Sammlern beliebt. Die Bilder zeigen repräsentative Räume, die als Empfangs- oder Gesellschaftsräume genutzt wurden und nicht nach unserem heutigen Verständnis privat waren. De Hooch malte seine Interieurs nicht ganz nach der Wirklichkeit, sondern kombinierte verschiedene Elemente, die er tatsächlich in Bürgerhäusern vorgefunden hatte, mit seiner eigenen Imagination. So wirken die Marmor- bzw. Natursteinböden zwar durchaus realistisch, doch wurden sie aufgrund ihrer hohen Preise eher selten verlegt. Zunehmend wurde die elegante Gesellschaft auch im Außenbereich dargestellt, in Innenhöfen und Lauben.

Stefan Marx (*1979) - I’ll be your mirror *

Die Bilder von Stefan Marx spiegeln Fragmente wider. Die poetischen, humorvollen, nachdenklichen und kritischen Metaphern entfalten in Verbindung mit seiner eigenen Typographie ihre emotionale Kraft. Dabei verändert Stefan Marx immer wieder seine Schrift, mal ist sie dynamisch, dann wieder verschwommen, bis nur noch wenige Teile lesbar sind und vom Hintergrund aufgenommen werden. Seine kreativen Anregungen schöpft er aus spontanen, täglichen Beobachtungen, wenn er unterwegs ist. Die gewonnenen Eindrücke hält er in schnell ausgeführten Zeichnungen fest, genauso Notizen und Zitate aus Songs oder Alltagsgesprächen. Diese Aufzeichnungen überträgt Stefan Marx auf die Leinwände. Dabei transportiert er auch die Emotionen, die er selbst beim Festhalten von Momenten empfunden hat. Das macht die Arbeiten in hohem Maß persönlich, denn er blickt kritisch auf die Gesellschaft, hinterfragt gesellschaftliche Normen. Stefan Marx reagiert mit seinen Arbeiten unmittelbar auf die Genreszenen des 17. Jahrhunderts und kommentiert die Darstellungen. Durch diese zugespitzte Gegenüberstellung entsteht plötzlich eine spannungsvolle Wechselwirkung, und man realisiert nicht nur die ungebrochene Aktualität der Alten Meister. Die Figuren werden auf einmal lebendig.

Soziale Gegensätze

Der Mensch in seiner alltäglichen Umgebung erhielt eine eigene, neue Bedeutung und entwickelte sich zu einem bildwürdigen Thema. Dies spiegelt sich in dem Interesse an vermeintlich einfachen, unspektakulären Motiven wider: Die Szenen reichen von Interieurs des gut situierten, gebildeten Bürgertums über ärmlichere Stuben bis hin zu bettelnden Menschen – Erwachsenen wie Kindern. Die niederländische Gesellschaft des 17. Jahrhunderts galt als besonders fortschrittlich und tolerant, ihr soziales Netz als vorbildlich. Neben den Angehörigen der Oberschicht bestimmte die Mittelschicht das politische Leben und bekleidete öffentliche Ämter. Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung in den Nördlichen Niederlanden stieg die Nachfrage nach gelernten wie ungelernten Arbeitskräften. Dadurch rückten die verschiedenen Berufe und Handwerke in den Fokus der Genremalerei und jede Tätigkeit erhielt in ihrer bildlichen Darstellung eine Bedeutung. Ein Teil der Menschen lebte aufgrund von Erwerbslosigkeit in Armut und zog bettelnd auf der Straße umher. Die Armenfürsorge galt als Pflicht der Reichen und als Gebot der christlichen Nächstenliebe. Trotzdem sind die abgebildeten Personen keine realen Menschen, sondern stehen für austauschbare, anonymisierte Figuren in ihren sozialen Rollen.

Lars Eidinger (*1976) - Vollendete Gegenwart

Das Archiv einer zukünftigen Vergangenheit wird ein visuelles sein. In ihm sind ab jetzt auch die Fotografien von Lars Eidinger gespeichert, der alles wahrnehmen und verarbeiten will, was ihm seine Zeit an Reizen zur Verfügung stellt. Seine Bilder halten für die Nachwelt ein Damals fest, das sich in sich gekehrt hat, in der Einsamkeit kein pathologisches Merkmal Einzelner, sondern eine Eigenschaft aller ist. Das, was zuerst wie eine verbildlichte Wunderkammer wirkt, in dem allerlei Kurioses seinen Platz hat, entpuppt sich bald als ein Kosmos der stillen Zeichen. Es sind Symbolbilder einer erschöpften Zeit, die sich hier aneinanderreihen. Die Traurigkeit, die sich über Eidingers Bilder verteilt, die gebrochen und aufgeraut, angeschnitten und unterspielt, aber nicht verleugnet wird, rührt genau daher: dass wir nicht wissen, warum wir uns eigentlich verloren haben.

Simon Strauss

Bilder von Bauern

Im 17. Jahrhundert erfreuten sich Darstellungen mit feiernden Bauern großer Beliebtheit. Sie zeigen Dorffeste im Freien und Bauern, deren übermäßiger Alkoholkonsum zu ungezügeltem Verhalten führt. Zeitgenössischen Sammlern gefielen diese Werke wohl auch aufgrund ihrer Vielschichtigkeit: Einerseits sorgte die derb-spaßige Komik für Belustigung beim Publikum, zumal die Darstellung der Figuren häufig an Karikaturen erinnert. Andererseits konnten sie als anschauliche Mahnung verstanden werden, welche Folgen ausgiebiger Alkoholkonsum nach sich ziehen kann. Denn die dargestellten Figuren sind als Personifikationen klischeehaften Verhaltens zu verstehen – trotz ihrer individuellen Wirkung. Maler wie Adriaen Brouwer, die Brüder Adriaen und Isaac van Ostade oder David Teniers d. J. schufen gar so häufig entsprechende Werke, dass sie als Bauernmaler bezeichnet wurden. Oftmals stehen die Bilder von Bauern auch in direkter Verbindung zu Verbildlichungen des Geschmacks, Geruchs oder des Hörens und geben damit Hinweise auf einen der fünf Sinne. Solche sinnbildlichen Auseinandersetzungen vermischten sich zusehends mit Alltagsszenen.

Spiele und Zeitvertreib

Zu den beliebtesten Motiven der niederländischen Genremalerei zählten Szenen mit Karten-, Kugel- und Brettspielern oder -spielerinnen. Meist herrscht eine wechselhafte Stimmung zwischen Ernst und Spaß vor: Zuschauer können sich Zwischenrufe nicht verkneifen, Spieler tauschen wissende Blicke oder lassen sich zu siegesgewissen Gesten hinreißen. Doch ein zweiter Blick verrät: Wenig ist so wie es scheint und das Glück kann ein jähes Ende nehmen. Spiele waren beliebte Sinnbilder für Verschwendung, Leichtsinn oder Täuschung. Als Zeichen für Vergänglichkeit tauchen immer wieder zerrissene Karten oder sich verflüchtigender Rauch auf. Sie verweisen symbolisch auf die Gratwanderung zwischen Glück und Pech beim Glückspiel. Großer Beliebtheit erfreuten sich auch Werke, die Soldaten zeigen. Mit Darstellungen von Wachstuben gewähren die Künstler Einblicke in deren Alltag. Die Maler standen ihnen oft misstrauisch gegenüber und spiegelten dies in ihren Gemälden, indem sie Soldaten als arrogant, maßlos, faul oder beim Spiel darstellten.

Winterstücke – Wintertjes

Die sog. Kleine Eiszeit, die vom frühen 15. bis zum 19. Jahrhundert dauerte, brachte zahlreiche lange und kalte Winter nach Mitteleuropa. Immer wieder froren auch in den Niederlanden die Grachten und sonstige Gewässer zu. Zahlreiche Figuren bevölkern die weitläufigen Winterlandschaften. Dort treffen Kolfspieler, Schlittschuh- und Schlittenfahrer auf diejenigen, die trotz Eis und Kälte ihre alltäglichen Aufgaben wahrnehmen müssen. Bei vielen Winteransichten ging es nicht darum, topografisch korrekte und wiedererkennbare Ansichten abzubilden. Stattdessen stand das Interesse am alltäglichen Leben der Menschen im Fokus, wodurch in den Winterlandschaften zwei Gattungen aufeinandertreffen: das Genre und die Landschaft. Wie in zahlreichen anderen Werken finden sich moralische Aspekte auch in diesen Motiven wieder: Das Eislaufen galt als Sinnbild für den Lebensweg, den jeder mit unterschiedlich viel Geschick bewältigt. Der durch das Eis verursachte Verlust des festen Stands kann als Aussage über die generelle Unwägbarkeit des Lebens begriffen werden.