Raffael, eigentlich Raffaello Santi oder Sanzio
Kopf eines Cherubs, um 1509
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Raffael, eigentlich Raffaello Santi oder Sanzio

Kopf eines Cherubs, um 1509

Raffael, eigentlich Raffaello Santi oder Sanzio

Kopf eines Cherubs, um 1509

Die Cherubim waren im Alten Testament geflügelte Himmelswesen, zumeist mit Tierleib und menschlichem Antlitz. Sie gehörten zum Thronstaat Gottes und wurden mit besonderen Aufgaben betraut.
In der Malerei stellte man sie seit dem Mittelalter als die mit Menschenkopf versehenen göttlichen Mächte der Kraft (auf einem Stierleib) und der Geschwindigkeit (über Flügeln) dar. Später wurde ihre Gestalt immer menschenähnlicher, häufig erschienen sie in großen Gruppen als Begleiter von göttlichen Ereignissen.
Dass es sich bei der vorliegenden Zeichnung tatsächlich um einen Cherub handelt, ist sehr wahrscheinlich aufgrund der gefiederähnlichen Schraffuren, die unterhalb des Kopfes zu erkennen sind.
Die vielleicht im Inventar der Sammlung Viti-Antaldi aus dem 17. Jahrhundert als Raffael erwähnte Zeichnung hatte Georg Ernst Harzen dem Florentiner Künstler Fra Bartolommeo zugeschrieben.(Anm.1) Später war das Blatt im Kupferstichkabinett als Arbeit eines unbekannten Meisters bezeichnet worden, bevor Oskar Fischel es 1928 erstmals als eigenhändige Zeichnung Raffaels identifizierte und in der einschlägigen Forschung bekannt machte.(Anm.2) In der Folgezeit blieb die Studie zwar nicht unbestritten,(Anm.3) doch fand sie ohne Einschränkung Eingang in die großen Werkverzeichnisse von Knab/Mitsch/Oberhuber (Anm.4) und von Joannides.(Anm.5)
Für eine Zuschreibung an Raffael spricht die meisterhafte Beherrschung der Kohle. Der Kopf ist vorwiegend aus flüssig gesetzten Rundungen geformt. Die für den Künstler typische, geradezu kalligraphische Sicherheit und funktionale Zweckmäßigkeit der Strichführung sind gleichsam beeindruckend. Die Studie ist wohl kaum nach dem Leben gezeichnet, sondern dürfte Raffaels idealtypische Vorstellung eines himmlischen Wesens widerspiegeln.(Anm.6)
Eine genaue funktionale Zuordnung des Kopfes ist bislang nicht gelungen. Knab/Mitsch/Oberhuber dachten an eine Entstehung in der Florentiner Phase Raffaels, in der besonders zahlreiche Madonnenbilder mit begleitenden Engeln und Putti entstanden.(Anm.7) Joannides sah in dem Kopf eine Studie zu den Cherubimen im Hintergrund der „Sixtinischen Madonna“ in Dresden bzw. der „Madonna di Foligno“ im Vatikan, beide um 1512 gemalt.(Anm.8) Henrike Christiane Lange, Hamburg, stellte eine interessante Verbindung zu Raffaels zwischen 1509 und 1511 entstandenen „Disputà“ in der Stanza della Segnatura im Vatikan her.(Anm.9) Auch dort finden sich Engelsköpfe, die aus den himmlischen Sphären herabschauen. Zudem lassen sich hinsichtlich der besonderen Weichheit der Kreidezeichnung und dem flüssigen Duktus zeichentechnische Verbindungen zur römischen Zeit des Künstlers herstellen. So ist durchaus vorstellbar, dass das Hamburger Blatt im Zusammenhang mit den umfangreichen Vorarbeiten für dieses Hauptwerk Raffaels entstanden ist.

David Klemm

1 „Una testina fatta di lapis negro, d’altezza un palmo due oncis, larghezza un palmo del medesimo“, Oxford, Ashmolean Museum, Bibliothek, zit. nach Italienische Zeichnungen der Renaissance aus dem Kupferstichkabinett der Hamburger Kunsthalle, bearb. v. Eckhard Schaar unter Mitarbeit v. David Klemm, Ausst.-Kat. Hamburger Kunsthalle, Ostfildern-Ruit 1997, S. 103.
2 Fischel 1913–1941, Abteilung VII (1928), S. 379–380, Nr. 367.
3 Vgl. Anna Forlani Tempesti: Disegni di Raffaello nella Collezione Antaldi: Un Inventario, in: Per L’Arte da Venezia all’Europa. Studi in onore di Giuseppe Maria Pilo, hrsg. v. Mario Piantoni, Laura De Rossi, Bd. 1, Dall’Antichità al Caravaggio, Venedig 2001, S. 153-157, S.153. Ursula Fischer Pace hält eine Entstehung der Zeichnung im Seicento für denkbar. Mitteilung anlässlich des Symposiums „Italienische Altmeisterzeichnungen 1450 bis 1800“ am 27. und 28.10.2005 im Kupferstichkabinett der Hamburger Kunsthalle.
4 Eckhart Knab, Erwin Mitsch, Konrad Oberhuber, unter Mitarbeit v. Silvia Ferino-Pagden: Raphael. Die Zeichnungen, Stuttgart 1983, S. 579, Nr. 249.
5 Paul Joannides: The Drawings of Raphael. With a complete catalogue, Oxford 1983, S. 204, Nr. 284.
6 Hamburger Kunsthalle, 2. erw. Aufl., hrsg. v. Werner Hofmann, München 1989, S. 196, Nr. 434 (Beitrag Eckhard Schaar).
7 Eckhart Knab, Erwin Mitsch, Konrad Oberhuber, unter Mitarbeit v. Silvia Ferino-Pagden: Raphael. Die Zeichnungen, Stuttgart 1983, S. 579, Nr. 249.
8 Paul Joannides: The Drawings of Raphael. With a complete catalogue, Oxford 1983, S. 204, Nr. 284.
9 Vgl. Henrike Christiane Lange: Ein Cherub aus Linien und Kreidestaub, Hausarbeit, Universität Hamburg, Wintersemester 2003/04, vor allem S. 16–19.

Details zu diesem Werk

Beschriftung

Umfassungslinie (Feder in Schwarz); auf dem Verso unten links bezeichnet: "Fra Bartolomeo / 8.9 11.2" (Bleistift)

Provenienz

Möglicherweise Sammlung Viti-Antaldi (16.–19. Jh.), Urbino und Pesaro (L. 2245–2246); Georg Ernst Harzen (1790–1863), Hamburg (L. 1244); HK, KK, A, NH Ad: 02: 01, S. 209 (als Fra Bartolomeo); HK, KK, A, NH Ad 01 : 03, fol. 104 (als Fra Bartolomeo): „Ein Cherubskopf in Lebens-größe. Estompirt und sehr großartig und meisterlich mit Kreide vollendet. 8.9 11.2“; Legat Harzen 1863 an die „Städtische Gallerie“ Hamburg; 1868 der Stadt übereignet für die 1869 eröffnete Kunsthalle

Bibliographie

Raffael, K.A. Schröder, A. Gnann, B. Thomas, C. Whistler, L. Gusmeroli München: Hirmer Verlag GmbH 2017, 447, S.166, Nr.44, Abb.S. 167

Kunst aus acht Jahrhunderten, hrsg. von Hamburger Kunsthalle und Freunde der Kunsthalle e.V., Hamburg 2016, S.283, Abb.

David Klemm: Italienische Zeichnungen 1450-1800. Kupferstichkabinett der Hamburger Kunsthalle, Die Sammlungen der Hamburger Kunsthalle Kupferstichkabinett, Bd. 2, Köln u. a. 2009, S.310-311, Nr.454, Abb.Farbtafel S. 22

David Klemm: Von Leonardo bis Piranesi. Italienische Zeichnungen von 1450 bis 1800 aus dem Kupferstichkabinett der Hamburger Kunsthalle, hrsg. von Hubertus Gaßner, David Klemm und Andreas Stolzenburg, Ausst.-Kat. Hamburger Kunsthalle, Bremen 2008, S.48-49, Abb + Umschlag, S. 221, Nr.18

Hamburger Kunsthalle. Museum Guide, Hamburg 2005, S.140, Abb.

Petra Roettig, Annemarie Stefes, Andreas Stolzenburg: Von Dürer bis Goya. 100 Meisterzeichnungen aus dem Kupferstichkabinett der Hamburger Kunsthalle, Ausst.-Kat. Hamburger Kunsthalle 2001, S.18-19, Nr.4, Abb.

Eckhard Schaar, David Klemm: Italienische Zeichnungen der Renaissance aus dem Kupferstichkabinett der Hamburger Kunsthalle, Ausst.-Kat. Hamburger Kunsthalle 1997, S.103-104, Nr.47, Abb.37

Hamburger Kunsthalle, hrsg. von Werner Hofmann, München 1989 (2. erw. Aufl.), S.196, Nr.434, Abb.434

Hamburger Kunsthalle, hrsg. von Werner Hofmann, München 1985, S.180, Nr.398, Abb.

Paul Joannides: The Drawings of Raphael. With a complete catalogue, Oxford 1983, S.204, Nr.284, Abb.204

Eckhart Knab, Erwin Mitsch, Konrad Oberhuber: Raphael. Die Zeichnungen, unter Mitarbeit von Silvia Ferino Pagden, Stuttgart 1983, S.o. S., Nr.249

V. T. [nicht aufgelöst]: Amburgo: Mostra di disegni italiani dal XV al XVIII secolo, in: Emporium. Rivista mensile illustrata d'arte e di cultura 76, 1957, Nr. 126, S. 228-229, S.229

[Wolf Stubbe]: Italienische Zeichnungen 1500-1800. Ausstellung aus den Beständen des Kupferstichkabinetts, Ausst.-Kat. Hamburger Kunsthalle 1957, S.15, Nr.50, Abb.2

Oskar Fischel: Raphaels Zeichnungen, Berlin 1913, S.379, Nr.367 (Text in Abt. 7, 1928)