Philipp Otto Runge
Sophia Sieveking auf dem Totenlager (Skizze), 1810
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Philipp Otto Runge

Sophia Sieveking auf dem Totenlager (Skizze), 1810

Philipp Otto Runge

Sophia Sieveking auf dem Totenlager (Skizze), 1810

Unter der Rubrik „Familienbilder“ vermerkt Daniel ein Bildnis „von Sophia Sieveking (1810 im Frühjahr; dasselbe Jahr, welches im December des Künstlers eignes Todesjahr wurde) im kranken Zustand, kurz vorher, ehe sie an einer zehrenden Krankheit verschied; es ist von ergreifender Wahrheit und die Beschäftigung damit griff R. selbst auf’s tieftse an.“ (Anm. 1) Die 19jährige Sophia Sieveking war am 15. Februar 1810 an der Schwindsucht verstorben; Runges Bildnis ist sein letztes Ölgemälde, was die Mutter der Verstorbenen, Johanna Margaretha Sieveking, nach Runges Tod gegenüber Daniel zum Ausdruck brachte: „Ich habe lange gefürchtet, daß die schöne Zeichnung und das Bild meines geliebten Kindes seine letzte Arbeit seyn würde, und mit doppelter Trauer sind mir die Bilder werth. Ich werde das Bild, sobald ich ausfahre, bey Ihnen abholen.“ (Anm. 2)
Das Gemälde ist bis heute verschollen; Müller hatte vermutet, dass bereits Daniel der Verbleib des Gemäldes bei der Herausgabe der „Hinterlassenen Schriften“ wahrscheinlich schon unbekannt war (Anm. 3). Erhalten sind aber mehrere Entwürfe zu dem Gemälde und eine bildmäßig ausgeführte Zeichnung (Inv. Nr. 1917-148), die wohl mit der von Johanna Sieveking erwähnten Zeichnung identisch ist. Sie dürfte der Ausführung des Gemäldes weitgehend entsprochen haben, weshalb offen bleiben muss, ob die Zeichnung als Entwurf für das Gemälde oder nach diesem entstand.
Sowohl für die Signatur (Anm. 4) als auch für die Zeichnung sind Zweifel an der Autorschaft Runges vorgebracht worden; Böttcher hatte aufgrund „der ängstlichen Sicherheit“ des „allzu genauen Vortrags“ eher an Runges Sohn Otto Sigismund als Autor gedacht (Anm. 5), doch spricht die Provenienz des Blattes, das sich immer in Familien besitz befand, und Daniels Erwähnung der Zeichnung dagegen. Die von Böttcher bemängelte Genauigkeit und Glätte des zeichnerischen Vortrags könnte vielmehr ein Indiz dafür sein, dass die Zeichnung nach dem Gemälde entstanden ist. Runges sorgfältiges, in einem gleichmäßigen Duktus durchgezeichnete Blatt zeigt die junge Frau zwischen Leben und Tod, zwischen Liegen und Aufbahrung in ihrem Bett. Der Kopf wird von hohen Kissen gestützt, die Augen sind geschlossen und der Mund leicht geöffnet, ihr Oberkörper ist in eine faltige Decke gehüllt, während ihre Beine unter der Decke verschwinden, aufgrund des ausgemergelten Zustands nicht mehr sichtbar sind. Höchste zeichnerische Konzentration hat Runge auf ihren Kopf mit dem glänzenden Haar und dem glatten Gesicht gelegt. In der ebenfalls für die Mutter bestimmten Zeichnung liegt eine gewisse Idealisierung, die sich in den erhaltenen Vorzeichnungen zum Gemälde nicht findet. Das eindringlichste, weil am unmittelbarsten die Privatheit des Sterbens zeigende Bildnis befindet sich in Frankfurt (Anm. 6). Es zeigt jene Intimität und Nähe, die Runge schon früh beim Portraitieren empfand: „Wie sonderbar es aber ist, liebe Mutter, jemands Portrait zu zeichnen, das glauben Sie nicht; es ist, als wenn man den Menschen so vor sich hätte und fühlte ihm mit dem Crayon im Gesicht herum; wo es tiefer hineingeht, fühlt man öfter zu und so ist es am Ende fertig, man lernt der Leute Gesicht so recht kennen.“ (Anm. 7) Zwei weitere Kopfstudien befinden sich in Berlin (Anm. 8) und in Privatbesitz (Anm. 9), die allerdings nicht die Eindringlichkeit des Frankfurter Blattes erreichen.
Vor kurzem konnte die Hamburger Kunsthalle zudem aus Privatbesitz eine Bleistiftstudie erwerben, die Traeger noch unbekannt war (Inv. Nr. 1996-38). Das Blatt zeigt den ausgemergelten Körper einer Liegenden, deren Haltung der Sophia Sievekings ähnelt. Zusammen mit Daniels Datierung auf dem Blatt in das Jahr 1810 kann kein Zweifel bestehen, dass es sich um eine Studie zum Sterbebild der Sophia Sieveking handelt. Das wahrscheinlich aus der Erinnerung gezeichnete Blatt trägt in der schnellen, skizzenhaften Aneignung des Gegenstandes jene Ergriffenheit in sich, die Runge im Jahr des eigenen Todes laut Daniel bei der Beschäftigung mit dem Bildnis selbst in sich spürte. In der schonungslosen Schilderung des toten, ausgezehrten Körpers offenbart sich ein vorausweisender Realismus, der ungewöhnlich für Runge ist, doch der Erschütterung des Augenblicks geschuldet sein dürfte.

Peter Prange

1 Vgl. HS I, S. 367-368.
2 Brief von Frau Sieveking an Daniel nach dem 2. Dezember 1810, vgl. HS II, S. 425.
3 Müller 1933, S. 89.
4 Müller 1933, S. 89.
5 Böttcher 1937, S. 283-284.
6 Kopfstudie der Sophia Sieveking, Bleistift, 269 x 209 mm, Frankfurt, Städel-Museum, Inv. Nr. SG 1307, vgl. Traeger 1975, S. 476, Nr. 531, Abb.
7 Brief vom 14. August 1799 an die Mutter, vgl. HS II, S. 22.
8 Kopfstudie der Sophia Sieveking, Bleistift, 406 x 480 mm, Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett, SZ 18, vgl. Traeger 1975, S. 477, Nr. 533, Abb.
9 Kopfstudie der Sophia Sieveking, Bleistift, 221 x 200 mm, Privatbesitz, vgl. Traeger 1975, S. 476, Nr. 532, Abb.

Details zu diesem Werk

Beschriftung

Verso unten links von Daniel Runges Hand bezeichnet und datiert: "Von P O Runge 1810" (Feder in Grau)

Provenienz

Nachlass des Künstlers; ab 1810 Pauline Runge (1785-1881), geb. Bassenge; Otto Sigismund Runge (1806-1839); Paul Runge (1835-1899), Berlin; Philipp Otto Runge (1866-1925), Berlin; Hans Runge (1900-?), Berlin (bis 1938); 1938 auf der Auktion C. G. Boerner, Leipzig; laut annotiertem Katalog im Archiv von C. G. Boerner, Düsseldorf, erworben von Dr. Rudolf Michalik, München; Eugen Brüschwieler (1889-1967), München; erworben 1997 ((?, Eingang bereits 1996)) von Brigitte Schöne, Hamburg, der Tochter Brüschwielers, als Geschenk von Herrn Jürgen Hinrichsen, Buenos Aires, in memoriam Gisela Hinrichsen, Acassuso, Argentinien

Provenienzabfolge oben nicht gesichert:
Problem Provenienz Boerner:
Kat. Boerner Auktion 199, 25.5.1938, "Deutsche Handzeichnungen der Romantikerzeit / Deutsche Graphik des frühen XIX. Jahrhunderts / Deutsche Zeichnungen der zweiten Hälfte des XVI. Jahrhunderts", S. 15, Nr. 129: "23 (28) Bl. Studien- und Skizzenblätter verschiedener Art, dabei einige schöne Porträtzeichnungen. B ((Blei)) und K. ((schwarze Kreide)) 12° bis Fol. Ein Teil der Blätter ist von Daniel bezeichnet und zwischen 1798 und 1810 datiert. - Beiliegen: Zwei Pausen, zwei Porträtzeichnungen und eine große Sepialandschaft von späterer Hand." (geschätzt 300,- RM, annotiert 150/185)
> Das Blatt ist diesem Eintrag nicht eindeutig zuzuordnen. Daher die Frage: Woher kommt der Hinweis auf Boerner (und folglich die Ableitung der weiteren Provenienzschritte)? Vermutung? Analogie? ((TB, 9.8.2012))

Bibliographie

Kosmos Runge. Der Morgen der Romantik. Katalogteil, hrsg. von Markus Bertsch, Uwe Fleckner, Jenns Howoldt, Andreas Stolzenburg, München 2010, S.290, 394, Nr.220, Abb., Abb.S. 293

Uwe M. Schneede: Philipp Otto Runge, Hamburg 2010, Abb.S. 182, 183

David Klemm, Andreas Stolzenburg: Runge als Zeichner, in: Hamburg/ München 2010 München 2010, S. 9-22, S.11, 14, 20, Nr.220

Hanna Hohl: Nachrichten aus dem Kupferstichkabinett; Neuerwerbungen, Kupferstichkabinett 1999/2000, in: Im Blickfeld. Die Jahre 1999/2000 in der Hamburger Kunsthalle, Hamburg 2001, S. 14-26, 73-84, S.24, Abb.S. 22

Im Blickfeld. Die Jahre 1999/2000 in der Hamburger Kunsthalle, hrsg. von Uwe M. Schneede, Hamburg 2001, S.14-26, Abb.

[Eckhard Schaar, Hanna Hohl]: Kupferstichkabinett. Erwerbungen von 1996 bis 1998, in: Im Blickfeld. Jahrbuch der Hamburger Kunsthalle 3, 1998, S. 184-192, S.185