Leonardo da Vinci
Kopf eines alten Mannes oder einer alten Frau im Profil, um 1495 - 1505
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Leonardo da Vinci

Kopf eines alten Mannes oder einer alten Frau im Profil, um 1495 - 1505

Leonardo da Vinci

Kopf eines alten Mannes oder einer alten Frau im Profil, um 1495 - 1505

Leonardo da Vinci war wohl der erste Künstler, der die menschliche Physiognomie in all ihren Facetten systematisch zeichnerisch festhielt.(Anm.1) Dabei ging es ihm keineswegs nur um die Darstellung von Schönheit und Harmonie, sondern auch um das vermeintlich Hässliche und Deformierte. Ein bedeutendes Beispiel für diesen Aspekt bietet der ausdrucksstarke Kopf im Profil, der mit dem vorstehenden Kinn, der kurzen, hochgezogenen Nase, den tief liegenden Augen und dem Stirnwulst zahlreiche Merkmale des Hässlichen aufweist. Leonardo hat all dies mit größter Sorgfalt und Sensibilität festgehalten und dadurch seine Achtung vor der Würde dieses vom Leben gezeichneten Menschen zum Ausdruck gebracht. Die Darstellung ist fernab von jenen physiognomischen Studien Leonardos, die in ihrer Überzeichnung als Karikaturen angesehen werden können und beim Betrachter unwillkürlich ein Schmunzeln auslösen.
Die Verwendung von roter Kreide wie von Parallelschraffuren macht eine Datierung der Kopfstudie um 1495/1505 wahrscheinlich.(Anm.2) Typisch für diese Phase in Leonardos Schaffen ist auch der Einsatz von dunklen Schatten, ein Effekt, den er durch Anfeuchten der Kreide oder durch starkes Aufdrücken des Zeichenmaterials erzielte. Der eigenhändige Text auf dem Verso weist für Carmen Bambach mehr auf die Zeit nach 1500 hin, könnte aber auch später vom Künstler hinzugefügt worden sein.(Anm.3)
Dem Hamburger Blatt kann eine ähnliche Kopfstudie in roter Kreide in Paris an die Seite gestellt werden.(Anm.4) Beide Blätter könnten aufgrund ihrer verwandten Größe und der nahezu identischen Technik und Thematik aus einem kleinen Skizzenbuch stammen.
Die Zeichnung zeigt Spuren einer Durchlöcherung; so ist denkbar, dass einer der Schüler Leonardos den Kopf mittels der Spolvero-Technik auf ein anderes Blatt übertragen hat. Tatsächlich existieren von dem Kopf auf dem Hamburger Blatt mehrere Kopien. Eine Zeichnung in Windsor zeigt ihn paarweise mit drei anderen Köpfen.(Anm.5) Ebenfalls in roter Kreide ausgeführt, könnte das Blatt die früheste nachweisbare Kopie sein. Andere einzelne Kopien des Kopfes befinden sich in der Ambrosiana in Mailand (Anm.6), in der (ehemaligen) Rudolf-Collection (Anm.7) und in den Spencer Grotesque Volumes (Anm.8). Die besondere Wertschätzung des Hamburger Kopfes zeigt sich auch in mehreren Reproduktionsstichen. Die Radierung von Wenceslaus Hollar (1607–1677) basiert wohl auf der erwähnten Windsor-Kopie. 1784 publizierte Carlo Giuseppe Gerli den Hamburger Kopftypus in seiner Anthologie der Leonardo-Zeichnungen. Dabei verwendete er auch die paarweise Anordnung. Er scheint auf die Ambrosiana-Kopie zurückgegriffen zu haben.(Anm.9) Eine Federzeichnung mit Weißhöhungen, basierend auf der Hamburger Zeichnung, befand sich 1977 und 1992 im Kunsthandel.(Anm.10)
Die Kopien nach dem Hamburger Kopf machen es wahrscheinlich, dass er ursprünglich mit einem anderen Kopf ein Paar bildete, das zu einem unbekannten Zeitpunkt getrennt worden ist. Da in der Windsor-Kopie dem Hamburger Kopf das Porträt einer Frau gegenübergestellt erscheint, ist zudem die Annahme berechtigt, dass es sich bei dem tendenziell eher androgynen Kopf in Hamburg um das Porträt eines Mannes handelt.
Der Text auf dem Verso ist eine schwer zu deutende kurze Abhandlung über die Anatomie des Auges.(Anm.11) Leonardos früheste nachweisbare wissenschaftliche Aussagen über das Auge datieren von 1489–1493, doch lässt sich neben dem Hamburger Text auch noch ein Pariser Manuskript auf die Zeit zwischen 1500 und 1507–1508 ansetzen.(Anm.12)
Carmen Bambach stellte die interessante These auf, dass die Intensität von Leonardos wissenschaftlichen Forschungen ihre Entsprechung in dem nuancierten Studium des relativ neuen Mediums der roten Kreide findet.(Anm.13)

David Klemm

1 Vgl. zu diesem Komplex Leonardo da Vinci Masterdraftsman, hrsg. v. Carmen Bambach, Ausst.-Kat. New York, The Metropolitan Museum of Art, New Haven, London 2003, S. 451–468; Léonard de Vinci. Dessins et manuscrits, Ausst.-Kat. Paris, Musée du Louvre, Paris 2003, S. 169–185; Michael W. Kwakkelstein: Leonardo da Vinci as a physiognomist. Theory and drawing practice, Phil. Diss., Rijksuniversiteit Leiden, Leiden 1994, mit weiterer Literatur.
2 Vgl. zum Folgenden Leonardo da Vinci Masterdraftsman, hrsg. v. Carmen Bambach, Ausst.-Kat. New York, The Metropolitan Museum of Art, New Haven, London 2003, S. 463–465.
3 Ebd., S. 464 (Beitrag Carmen Bambach); Popham und Gombrich datierten das Blatt in die frühen 1490er Jahre; vgl. Arthur Ewart Popham: The Drawings of Leonardo da Vinci, Nachdruck der 2. Aufl., London 1949; Ernst H. Gombrich: Leonardo’s Grotesque Heads. Prolegomena to their Study, in: Leonardo. Saggi e ricerche, [Rom] 1954, S. 197-219, Abb. 107-112.
4 Paris, Musée du Louvre, Département des Arts Graphiques, Inv.-Nr. 2249; vgl. Leonardo da Vinci Masterdraftsman, hrsg. v. Carmen Bambach, Ausst.-Kat. New York, The Metropolitan Museum of Art, New Haven, London 2003, S. 465 (Beitrag Carmen Bambach).
5 Kopie nach Leonardo, „Vier groteske Köpfe“; Windsor Castle, Royal Library, Inv.-Nr. 12493.
6 Mailand, Biblioteca Ambrosiana, Cod. F 263 Inf. n. 19. Vgl. auch den Nachstich von C. G. Gerli in: Disegni di Leonardo da Vinci, Mailand 1784.
7 London, Courtauld-Institute of Art, Witt-Library, Neg.-Nr. 293/22.39.
8 The New York Public Library, Astor Lennox and Tilden Foundations, New York, Spencer Collection, Spencer Grotesques, vol. 2, no.7.
9 Leonardo da Vinci Masterdraftsman, hrsg. v. Carmen Bambach, Ausst.-Kat. New York, The Metropolitan Museum of Art, New Haven, London 2003, S. 463 (Beitrag Carmen Bambach).
10 Aukt.-Kat. London, Christie’s, Old Master Drawings, 7. 7. 1992, S. 9, Nr. 3, Abb. S. 8.
11 Die Transkription der Schriftzeilen ist schwierig und von verschiedenen Forschern unterschiedlich entziffert worden. Die hier wiedergegebene Transkription folgt der auf den Forschungen Carlo Pedrettis basierenden Version Carmen Bambachs im Leonardo da Vinci Masterdraftsman, hrsg. v. Carmen Bambach, Ausst.-Kat. New York, The Metropolitan Museum of Art, New Haven, London 2003, S. 463. Eine alternative Transkription von Luisa Cogliati Arano findet sich ebd., S. 465. Erwähnt sei in diesem Zusammenhang auch die unpublizierte Untersuchung von Paul Müller-Walde: Die verstümmelte Manuskriptstelle auf der Rückseite des Rötelkarikaturenblättchens der Hamburger Kunsthalle, Leonardo als Entdecker der anatomischen Einbettungsmethode, Manuskript in der Bibliothek der Hamburger Kunsthalle; vgl. Zeichnungen Alter Meister in der Kunsthalle zu Hamburg. Italiener. 30 Originalgetreue Lichtdrucke, hrsg. v. Gustav Pauli, Frankfurt am Main 1927 o. S., bei Nr. 10.
12 Paris, Institut de France, Ms. K III, fol 119 r; vgl. Leonardo da Vinci Masterdraftsman, hrsg. v. Carmen Bambach, Ausst.-Kat. New York, The Metropolitan Museum of Art, New Haven, London 2003, S. 465 (Beitrag Carmen Bambach).
13 Ebd.

Details zu diesem Werk

Beschriftung

Auf dem Verso bezeichnet: "[anatom]ja dellochio / [fa la natomi]a dellochio chomellj sta de[n]tro cholle sue tonjche / [e per questo] che si facci vna uesta simile acquella dellouo / [e se la terra] i fresscha talieraj detta cholla[crossed out: l] dellochio co[n] / [?cr]ssciere de[n]tro a essi vasi la ... a. a dell ochio / [che e dentr]o i[n] modo. ue[n]ghi il proposito. tuo. appu[n]to." (Feder in Braun, seitenverkehrt); rechts davon: Rötelspuren [Buchstaben? Ziffern?]

Auf dem Verso unten links bezeichnet: "3.1 3.9" (Bleistift); rechts davon: Stempel der Hamburger Kunsthalle (L. 1328)

Provenienz

Wahrscheinlich Samuel Woodburn (1786-1853), London (L. 2588); wahrscheinlich auf dessen Nachlaßauktion 1854 in London (Lugt Ventes 21988) von Georg Ernst Harzen (1790-1863), Hamburg (L. 1244) erworben (Ad : 03 : 16, Sp. 12 als Leonardo); NH Ad : 02 : 01, S. 222 (als Leonardo da Vinci); NH Ad : 01 : 03, fol. 116 (als Leonardo da Vinci): "Ein männlicher Caricaturkopf frey und geistreich mit Röthel gezeichnet. Auf der Rückseite sechs Zeilen Text von der Hand des Künstlers in Verkehrtschrift. dellochio chome ch sta detro cholle pie[?] toniche da"; Legat Harzen 1863 an die "Städtische Gallerie" Hamburg; 1868 der Stadt übereignet für die 1869 eröffnete Kunsthalle

Bibliographie

Leonardo da Vinci in der Hamburger Kunsthalle, hrsg. von Klemm, David und Stolzenburg, Andreas im Auftrag der Hamburger Kunsthalle, Hamburg 2019, S.24,26, Nr.4, Abb.25,27

150 Jahre Hamburger Kunsthalle, hrsg. von Hamburger Abendblatt, 2019, S.60-62, Abb.

Carmen C. Bambach: Leonardo da Vinci. Rediscovered, hrsg. von Yale University Press, Bd. 2, 2019, Abb.S. 294

Carmen C. Bambach: Leonardo da Vinci. Rediscovered, hrsg. von Yale University Press, Bd. 4, 2019, S.S. 258

für UNS ALLE. seit 150 Jahren Hamburger Kunsthalle, hrsg. von Hamburger Kunsthalle, 2019, Abb.S. 12

for ALL OF US. seit 150 Jahren Hamburger Kunsthalle, hrsg. von Hamburger Kunsthalle, 2019, Abb.S. 12

Silke Reuther: Georg Ernst Harzen. Kunsthändlier, Sammler und Begründer der Hamburger Kunsthalle, hrsg. von Hamburger Kunsthalle und Hermann Reemtsma Stiftung, 2011, Abb.S. 261

David Klemm: Italienische Zeichnungen 1450-1800. Kupferstichkabinett der Hamburger Kunsthalle, Die Sammlungen der Hamburger Kunsthalle Kupferstichkabinett, Bd. 2, Köln u. a. 2009, S.214-215, Nr.289, Abb.Farbtafel S. 19

David Klemm: Von Leonardo bis Piranesi. Italienische Zeichnungen von 1450 bis 1800 aus dem Kupferstichkabinett der Hamburger Kunsthalle, hrsg. von Hubertus Gaßner, David Klemm und Andreas Stolzenburg, Ausst.-Kat. Hamburger Kunsthalle, Bremen 2008, S.28-29, Abb, S. 218-219, Nr.8

Die Geschichte der Hässlichkeit, hrsg. von Umberto Eco, München 2007, S.151

Sebastiano Scarpa, Pietro Scarpa: Antichi disegni dalla Collezione Ligabue, Mailiand 2005, S.26

Peter O. Chotjewitz: Alles über Leonardo da Vinci, Leipzig, Wien 2004, Abb.367

Johannes Nathan, Frank Zöllner: Das zeichnerische Werk, in: Leonardo da Vinci 1452-1519. Sämtliche Gemälde und Zeichnungen, Köln, London, Los Angeles, Madrid, Paris, Tokyo 2003, S.382, Abb.382

Léonard de Vinci. Dessins et manuscrits, Ausst.-Kat. Paris 2003, S.180-181, 161, 184, 215, Nr.58, Abb.182

Leonardo da Vinci Masterdraftsman, hrsg. von Carmen Bambach, Ausst.-Kat. New York, The Metropolitan Museum of Art, New Haven, London 2003, S.463-465, Nr.75

Eckhard Schaar, David Klemm: Italienische Zeichnungen der Renaissance aus dem Kupferstichkabinett der Hamburger Kunsthalle, Ausst.-Kat. Hamburger Kunsthalle 1997, S.94, Nr.28, Abb.22

Michael W. Kwakkelstein: Leonardo da Vinci as a physiognomist. Theory and drawing practice, Diss. Rijksuniversiteit. Leiden 1994, S.116, Abb.83

Leonardo & Venice, Ausst.-Kat. Venedig, Palazzo Grassi 1992, S.324, Nr.61, Abb.325

Hamburger Kunsthalle, hrsg. von Werner Hofmann, München 1989 (2. erw. Aufl.), S.190, Nr.416, Abb.416

Hamburger Kunsthalle, hrsg. von Werner Hofmann, München 1985, S.176, Nr.385, Abb.

Kenneth Clark, The Drawings of Leonardo da Vinci in the Collection of her Majesty the Queen at Windsor Castle. Bearbeitet von Kenneth Clark unter Mitarbeit von Carlo Pedretti, London 1968; 1, S.83-84, Nr.bei 12493

V. T. [nicht aufgelöst]: Amburgo: Mostra di disegni italiani dal XV al XVIII secolo, in: Emporium. Rivista mensile illustrata d'arte e di cultura 76, 1957, Nr. 126, S. 228-229, S.228

[Wolf Stubbe]: Italienische Zeichnungen 1500-1800. Ausstellung aus den Beständen des Kupferstichkabinetts, Ausst.-Kat. Hamburger Kunsthalle 1957, S.10, Nr.14

Leonardo da Vinci. Qintenary Exhibition, Ausst.-Kat. Royal Academy of Arts, London, London 1952, S.33, Nr.92

Arthur E. Popham: The Drawings of Leonardo da Vinci, London 1949

Bernard Berenson: The Drawings of the Florentine Painters. Amplified Edition, Bd. 2, Chicago 1938, S.112, Nr.1020 B

Oskar Fischel: Dreizehnte Veröffentlichung der Prestel-Gesellschaft: Zeichnungen italienischer Meister in der Kunsthalle zu Hamburg, in: Kunst und Künstler XXIX, 1930/31, S. 480, S.480

Odoardo H. Giglioli: [Anmerkungen zur Prestel-Mappe], in: Cronache d`Arte, 5, 1928, , S.262

August Liebmann Mayer: Zeichnungen Alter Meister in der Kunsthalle zu Hamburg. Italiener, Pantheon Band II, 1928, S. 388, S.388

Gustav Pauli: Zeichnungen Alter Meister in der Kunsthalle zu Hamburg. Italiener. Neue Folge, Frankfurt am Main 1927, Abb.Taf. 10

Ausstellung von Zeichnungen Alter Meister aus den Sammlungen der Kunsthalle zu Hamburg, Ausst.-Kat. Kunstverein in Hamburg 1920, S.17, Nr.92

Eugène Muentz: Leonard de Vinci, Paris 1899, S.525, Nr.IV

Wilhelm Koopmann: Einige weniger bekannte Handzeichnungen Raffaels, in: Jahrbuch der Königlich Preußischen Kunstammlungen 12, 1891, S. 40-49, S.40