Jacopo Tintoretto (Werkstatt)
Stehender Greis im Mantel mit einem Buch in der Linken, um 1570
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Jacopo Tintoretto (Werkstatt)

Stehender Greis im Mantel mit einem Buch in der Linken, um 1570

Jacopo Tintoretto (Werkstatt)

Stehender Greis im Mantel mit einem Buch in der Linken, um 1570

Die Zeichnung eines nach rechts schreitenden Mannes lässt sich mit einem Jacopo Tintoretto zugeschriebenen Gemälde eines stehenden Philosophen in der Libreria San Marco in Venedig verbinden.(Anm.1) Dieses Werk gehört zu einem umfangreichen Gemäldezyklus mit Darstellungen von Philosophen, der in einer Konkurrenz bedeutender italienischer Künstler, wie Salviati, Veronese, Schiavone und Tintoretto, entstand und 1570/71 abgeschlossen war.(Anm.2)
Im Vergleich zu dem Gemälde zeigt das Hamburger Blatt die Figur seitenverkehrt. Bei zahlreichen Ähnlichkeiten – wie der nach vorn gebeugten Haltung, dem leichten Zurückschauen, dem Motiv des auf dem Arm liegenden Buches usw. – gibt es einige wichtige Unterschiede. So weist der Mann auf Tintorettos Gemälde eine längere Beinbekleidung auf. Zudem ist der Faltenwurf vor allem unterhalb des Buches anders ausgeführt. Diese Beobachtungen machen verständlich, warum verschiedene Autoren wie Neumeyer und Scholz (Anm.3) das Blatt für eine in der Ausführung noch leicht variierte Vorzeichnung für das Gemälde hielten. Hinzu kommt, dass abgesehen vom motivischen Bezug auch technische Ähnlichkeiten zu gesicherten Zeichnungen Tintorettos bestehen: So finden sich z. B. die Verwendung relativ dicker Kreide mit daraus resultierender großzügiger Linienführung, die Weißhöhungen, die Verwendung getönten Papiers und letztlich die bei Tintoretto häufige Quadratur. Trotz dieser allgemeinen Ähnlichkeiten mehrten sich seit den 1920er Jahren die Stimmen, die an der Autorschaft Tintorettos zweifelten. Tietze-Conrat haben sich zu dem Blatt nicht abschließend äußern wollen, da es durch eine Überarbeitung ihrer Ansicht nach zu stark vom originalen Zustand entfernt sei.(Anm.4) Seit Forlanis zweifelnder Einschätzung 1956 ist das Blatt abgesehen von Rearick 2001 jedoch nicht mehr als eigenhändige Arbeit Tintorettos akzeptiert worden.(Anm.5) Diese Einschätzung wird vor allem dann nachvollziehbar, wenn man das Hamburger Blatt mit zwei Zeichnungen in den Uffizien vergleicht, die als sichere Vorzeichnungen Tintorettos für zwei der Philosophen-Gemälde eingestuft werden.(Anm.6) Diese Blätter weisen eine deutlich freiere und lebendigere Zeichentechnik auf. Mit großzügigem Schwung sind Körperhaltung und Gewand wiedergegeben. Die Köpfe sind nur skizzenhaft angedeutet. Die Hamburger Zeichnung dürfte trotz ihrer im Vergleich hierzu viel festeren und beruhigteren Erscheinung aufgrund der oben beschriebenen allgemeinen Ähnlichkeiten dennoch in der Werkstatt oder im Umkreis Tintorettos entstanden sein. Denkbar ist, dass hier ein Mitglied der Bottega eine Entwurfszeichnung Tintorettos aus Übungszwecken übertragen hat. Dies würde auch die Verwendung eines Quadraturnetzes erklären. So dokumentiert das Hamburger Blatt vielleicht sogar einen später nicht ausgeführten Entwurf Tintorettos. Denkbar ist auch, dass das Hamburger Blatt – wie Detlef von Hadeln bereits 1927 vermutete – den Abklatsch eines Originalentwurfs Tintorettos darstellt.(Anm.7) Dieser hat dann durch die offensichtliche Überarbeitung z. B. von Schülerhand deutlich an Qualität verloren. Weitere im Umkreis der Philosophen eingeordnete aber nicht als eigenhändig anerkannte Zeichnungen befinden sich in den Uffizien (Anm.8) und in der Sammlung Horne in Florenz.(Anm.9)
Das Hamburger Blatt hat eine „Signatur“, die offensichtlich identisch ist, mit denjenigen auf mehreren anderen Blättern, so z. B. im Londoner Courtauld Institute of Art, Witt Collection (Anm.10), der ehem. Slg. Scholz in New York (Anm.11) und der Wiener Albertina (Anm.12). Diese Bezeichnungen sind sicherlich nicht zeitgenössisch und deuten auf einen Sammler hin. Da sich die meisten dieser Blätter ehemals im Besitz von Joshua Reynolds befanden und danach auf verschiedene Sammlungen verteilt wurden, muss diese Aufschrift mindestens ins späte 18. Jahrhundert zurückreichen.

David Klemm

1 Zur Diskussion der Gemälde für die Bibliothek vgl. Carlo Bernari, Pierluigi de Vecchi: Tintoretto, Mailand 1970, S. 112-113, Nr. 189; Rodolfo Pallucchini, Paola Rossi: Tintoretto. Le opere sacre e profane, Mailand 1982, I, S. 197-198.
2 Zur Ausstattung der Bibliothek vgl. u. a. Ugo Ruggeri: La decorazione pittorica della Libreria Marciana, in: Cultura e società nel Rinascimento tra riforme e manierismi, hrsg. v. Vittore Branca, Civiltà veneziana, Saggi 32, Florenz 1984, S. 313-333, S. 313–333.
3 Mündliche Mitteilung. Dokumentation im Kupferstichkabinett.
4 Vgl. Hans Tietze, Erika Tietze-Conrat: The Drawings of the Venetian Painters in the 15th and 16th Centuries, New York 1944, S. 286.
5 Christel Thiem schlug per Kartonnotiz Giacomo Cavedone als Zeichner vor.
6 Florenz, Gabinetto Disegni e Stampe degli Uffizi, Inv.-Nr. 12937 F. und Inv.-Nr. 12938 F; Paola Rossi: I Disegni di Jacopo Tintoretto, hrsg. v. Terisio Pignatti, Corpus Graphicum, Bd. 1, Florenz 1975, S. 22–23.
7 Briefliche Mitteilung vom 30. 5. 1927.
8 Florenz, Gabinetto Disegni e Stampe degli Uffizi, Inv.-Nr. 12970 F. Vgl. Paola Rossi: I Disegni di Jacopo Tintoretto, hrsg. v. Terisio Pignatti, Corpus Graphicum, Bd. 1, Florenz 1975, S. 23.
9 Florenz, Gabinetto Disegni e Stampe degli Uffizi, Sammlung Horne Inv.-Nr. 5666; vgl. Paola Rossi: I Disegni di Jacopo Tintoretto, hrsg. v. Terisio Pignatti, Corpus Graphicum, Bd. 1, Florenz 1975, S. 23.
10 Paola Rossi: I Disegni di Jacopo Tintoretto, hrsg. v. Terisio Pignatti, Corpus Graphicum, Bd. 1, Florenz 1975, S. 44.
11 Paola Rossi: I Disegni di Jacopo Tintoretto, hrsg. v. Terisio Pignatti, Corpus Graphicum, Bd. 1, Florenz 1975, S. 47–48.
12 Wien, Albertina, Grafische Sammlung, Inv.-Nr. 24475, vgl. Veronika Birke, Janine Kertész: Die italienischen Zeichnungen der Albertina. Generalverzeichnis, Bd. IV (Inv. 14326-42255), Veröffentlichungen der Albertina Bd. 36, Wien, Köln, Weimar 1997, S. 2390; Paola Rossi: I Disegni di Jacopo Tintoretto, hrsg. v. Terisio Pignatti, Corpus Graphicum, Bd. 1, Florenz 1975, S. 58.

Details zu diesem Werk

Beschriftung

Umfassungslinie (Feder? in Schwarz); unten rechts bezeichent: "G. Tintoretto" (Feder in Braun); auf dem Verso oben in der Mitte bezeichnet: "B.W." (Feder in Braun); unterhalb davon bezeichnet: "B. West[?]" (Beistift); Stempel der Hamburger Kunsthalle (L. 1328)

Provenienz

Möglicherweise Sammlung Benjamin West (1738-1820), London (vgl. die handschriftliche Abkürzung "BW" auf dem Verso, oben, die allerdings in dieser Form nicht bei Lugt auftritt); Legat Harzen 1863 an die "Städtische Gallerie" Hamburg; 1868 der Stadt übereignet für die 1869 eröffnete Kunsthalle

Bibliographie

David Klemm: Italienische Zeichnungen 1450-1800. Kupferstichkabinett der Hamburger Kunsthalle, Die Sammlungen der Hamburger Kunsthalle Kupferstichkabinett, Bd. 2, Köln u. a. 2009, S.348-349, Nr.531

William R. Rearick: Il disegno veneziano del Cinquecento, Mailand 2001, S.227

Paola Rossi: und Stadter Jahrbuch: I Disegni die Jacopo Tintoretto, hrsg. von Terisio Pignatti, Corpus Graphicum, Bd. 1, Florenz 1975, S.61

V. T. [nicht aufgelöst]: Amburgo: Mostra di disegni italiani dal XV al XVIII secolo, in: Emporium. Rivista mensile illustrata d'arte e di cultura 76, 1957, Nr. 126, S. 228-229, S.228, Abb.

[Wolf Stubbe]: Italienische Zeichnungen 1500-1800. Ausstellung aus den Beständen des Kupferstichkabinetts, Ausst.-Kat. Hamburger Kunsthalle 1957, S.19, Nr.78, Abb.Taf. 15

Mostra di disegni di Jacopo Tintoretto e della sua scuola, hrsg. von Anna Forlani, Ausst.-Kat. Florenz, Uffizien 1956, S.21, Nr.20

Hans Tietze, Erika Tietze-Conrat: The Drawings of the Venetian Painters in the 15th and 16th Centuries, New York 1944, S.286, Nr.A 1678

Alfred Neumeyer: Einige italienische Handzeichnungen aus dem Hamburger Kupferstichkabinett, in: Zeitschrift für Bildende Kunst, 62. Jahrgang, NF, 38. Jahrgang Leipzig 1928/29, S. 43-48, S.44-45, Abb.S. 44