Il Bertoia, eigentlich Jacopo Zanguidi
Europa und der Stier (?),
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Il Bertoia, eigentlich Jacopo Zanguidi

Europa und der Stier (?),

Il Bertoia, eigentlich Jacopo Zanguidi

Europa und der Stier (?)

Die Zeichnung wurde lange Zeit Pellegrino Tibaldi zugeschrieben.(Anm.1) Diese Zuordnung mag vor allem auf die formale Ähnlichkeit mit Bildlösungen des Künstlers zurückgehen. So erinnert die legere und exponierte Haltung der nackten Frau u. a. an die Neptun-Figur in Tibaldis Deckenfresko im Palazzo Poggi in Bologna.(Anm.2) Dagegen lässt sich der Zeichenstil des Hamburger Blattes nur schwer mit gesicherten Blättern Tibaldis in Verbindung bringen. Generell sind dessen Zeichnungen weniger leicht und locker ausgeführt. Skizzenhafte Blätter wie z. B. der "Tod des Meleager" (Anm.3) oder "Der Raub der Rinder des Sonnengottes"(Anm.4) wirken zwar auf den ersten Blick ähnlich, weisen aber im genaueren Vergleich deutliche Unterschiede in der Technik auf. So fehlen auf diesen Blättern z. B. die für das Hamburger Blatt typischen Schraffuren gänzlich, und auch zeigen sie eine andere Laviertechnik. Zudem ist Tibaldi in der Anatomie "klassischer" und in der Darstellung der Extremitäten (Hände, Füße) korrekter.
Während die Zuschreibung an Tibaldi sehr zweifelhaft erscheint, lässt sich das Blatt überzeugender mit gesicherten Arbeiten von Jacopo Zanguidi, gen Il Bertoia, verbinden. Diese Zuordnung wurde erstmals von Diane de Grazia vorgenommen, der auch die erste umfassende Monographie zu diesem lange verkannten Künstler zu danken ist. Sehr typisch für Bertoia erschienen ihr vor allem die Zartheit und Feinheit der Federstriche, die dagegen im Werk Tibaldis selten nachweisbar sind.(Anm.5) Charakteristisch ist auch, dass die Schraffuren fast ausschließlich parallel gesetzt werden und dass sie auch um die Kontur herum angelegt sind. Typisch für Bertoia ist auch eine bisweilen erkennbare Nachlässigkeit im Zeichnen der Extremitäten.(Anm.6) Letztlich finden sich bei diesem Künstler auch ähnliche Lavierungen, wobei bei der Hamburger Zeichnung die Logik der Licht- und Schattenverteilung nicht immer zwingend ist. Dies mag aber der unverkennbaren Schnelligkeit des Entwurfs geschuldet sein. Die ganz gegensätzliche, penibler ausgeführte Kreidestudie auf dem Verso lässt sich laut de Grazia ohne Probleme mit anderen Kreidestudien Bertoias verbinden.(Anm.7) Nimmt man all diese Punkte zusammen, so erscheint eine Zuschreibung des Blattes an Bertoia gerechtfertigter als an der alten Attribution festzuhalten.
Schwer zu deuten ist das Thema der Darstellung. Es wirkt auf den ersten Blick wie eine Variante des "Raubs der Europa", doch spricht vor allem die in der Bildtradition des Mythos' ganz ungewöhnliche erotische Aufladung gegen diese Deutung. In Dutzenden von überlieferten Darstellungen findet sich keine auch nur annähernd ähnliche Verführungsszene, bei der der Stier mit seiner Zunge die Frau zwischen ihren Brüsten berührt. Ungewöhnlich ist auch die enge Verbindung mit einem jungen Mann, der einen Stier niederdrückt.(Anm.8) Georg Ernst Harzen brachte die Szene um 1860 mit dem von Ovid überlieferten Mythos der Pasiphae in Verbindung. Diese war unglücklicherweise in Liebe zu einem Stier entflammt, der ihrem Mann, dem kretischen König Minos, von Zeus geschenkt worden war.(Anm.9) Die Königin vertraute allerdings – wie Ovid überliefert – nicht ihren sinnlichen Reizen, sondern überlistete den Umworbenen mit einer von Dädalus konstruierten hölzernen Kuh. Das Hamburger Blatt lässt sich also keineswegs überzeugend mit dieser seltsamen Szene in Einklang bringen. Die Darstellung wird hier daher mit Vorsicht als ikonographisch ungewöhnliche Interpretation des Europa-Mythos' gedeutet.
Die Zeichnung lässt sich bislang mit keinem bekannten Gemälde oder Fresko des Künstlers verbinden. Ein von Venturi für Bertoia angegebenes und als "Raub der Europa" benanntes Gemälde ist heute nicht mehr nachweisbar.(Anm.10)
Unabhängig von Fragen der Zuschreibung und Ikonographie beeindruckt das Blatt mit seiner künstlerischen Qualität. Selten wurde in der italienischen Zeichenkunst des 16. Jahrhunderts eine erotische Szene zwischen Mensch und Tier derart sinnlich dargestellt.(Anm.11)

David Klemm

1 Eine Herkunft aus der Sammlung Esdaile, wie in Gli affreschi di Paolo III a Castel Sant’Angelo. Progetto ed esecuzione 1543-1548, hrsg. v. Filippa M. Aliberti Gaudioso, Eraldo Gaudioso, 2 Bde., Ausst.-Kat. Rom, Museo Nazionale di Castel Sant’Angelo, Rom 1981, S. 197, angegeben, ist nicht nachweisbar.
2 Vgl. Jürgen Winckelmann: Pellegrino Tibaldi, in: Pittura Bolognese del ‘500, hrsg. v. Vera Fortunati Pietrantonio, 2 Bde., Bologna 1986, II, S. 523.
3 Ebd., S. 504.
4 Ebd., S. 505.
5 Vgl. z. B. „Aktstudien und Putti", Wien, Albertina, Grafische Sammlung, Inv.-Nr. 2696; Diane De Grazia: Bertoia, Mirola and the Farnese Court, Mailand 1991, S. 136, D 89, Abb. 126.
6 Vgl. z. B. die Füße auf der Zeichnung „Ganymed", Paris, Musée du Louvre, Département des Arts Graphiques, Inv.-Nr. 10414; Diane De Grazia: Bertoia, Mirola and the Farnese Court, Mailand 1991, S. 132, Nr. D 74, Abb. 115.
7 „Kopfstudien"; Washington, National Gallery of Art, Ailsa Mellon Bruce Fund, In.-Nr. 1971.67.7 v.; vgl. Diane De Grazia: Bertoia, Mirola and the Farnese Court, Mailand 1991, S. 137, Nr. D 91, Abb. 55.
8 Die Dynamik des Niederdrückens ist gut vergleichbar mit Caraglios Darstellung von „Herkules, der den Flussgott Acheloos in Gestalt eines Stieres niederringt"; vgl. The Illustrated Bartsch, begründet u. hrsg. v. Walter L. Strauss u. John T. Spike, New York 1978- 28 (15), 48-I (86).
9 Ovid, Metamorphosen, IX, 735ff.
10 Venturi IX, 6, S. 679; vgl.Diane De Grazia: Bertoia, Mirola and the Farnese Court, Mailand 1991 S. 102, Nr. P/L 21.
11 Eines der seltenen vergleichbaren Beispiele ist Giulio Bonasones Kupferstich nach einem Entwurf von Giulio Romano mit der Darstellung „Saturn und die Nymphe Philyra"; vgl. The Illustrated Bartsch, begründet u. hrsg. v. Walter L. Strauss u. John T. Spike, New York 1978- 28 (15), 108 (142). Dort ist allerdings die packende Präsenz der Hamburger Komposition durch die Einbindung der Szene in eine weite Landschaft deutlich abgeschwächt.

Details zu diesem Werk

Beschriftung

Unten links: Stempel der Sammlung Mariette (L. 1852); unten rechts nummeriert: "7" (Feder in Schwarz); teilweise erhaltene Umfassungslinie (Feder in Braun); auf dem Verso unten links bezeichnet: "Mariette" (Bleistift); unten rechts bezeichnet: "Tibaldi" (Bleistift); oben links: Stempel der Hamburger Kunsthalle (L. 1328)

Wasserzeichen / Kettenlinien

Gekreuzte Pfeile und Stern

Verso

Titel verso: Studien dreier Füße

Technik verso: Schwarze Kreide, an einer Stelle mit Feder überarbeitet

Provenienz

Pierre Crozat (1661 oder 1665-1740); dessen Auktion, Paris 10.04.1741, Nr. 413; Pierre-Jean Mariette (1694-1774), Paris (L. 2097); Auktion Paris, 15.11. 1775, Nr. 742; Pierre-Francois Basan (1723-1797), Paris?, (L. 221); Samuel Woodburn (1786-1853); auf dessen Nachlassauktion 1854 in London erworben von Georg Ernst Harzen (1790-1863), Hamburg (L. 1244); NH Ad: 02: 01, S. 221 (als Pellegrino Tibaldi); NH Ad: 01: 03, fol. 113 (als Pellegrino Tibaldi): "Pasiphae lehnt sich auf ihren geliebten Stier, der sich schmeichelnd an sie schmiegt grossartige Feder-und Bisterzeichnung. 10.0. 11.0 Samml. Mariette"; Legat Harzen 1863 an die "Städtische Gallerie" Hamburg; 1868 der Stadt übereignet für die 1869 eröffnete Kunsthalle

Bibliographie

David Klemm: Italienische Zeichnungen 1450-1800. Kupferstichkabinett der Hamburger Kunsthalle, Die Sammlungen der Hamburger Kunsthalle Kupferstichkabinett, Bd. 2, Köln u. a. 2009, S.96-97, Nr.58, Abb.Farbtafel S. 37

David Klemm: Von Leonardo bis Piranesi. Italienische Zeichnungen von 1450 bis 1800 aus dem Kupferstichkabinett der Hamburger Kunsthalle, hrsg. von Hubertus Gaßner, David Klemm und Andreas Stolzenburg, Ausst.-Kat. Hamburger Kunsthalle, Bremen 2008, S.96-97, Abb, S. 227, Nr.42

Bernadette Py: Everhard Jabach Collectionneur (1618-1695). Les dessins de l'inventaire de 1695, Notes et documents des musées de France 36, Paris 2001, S.314

Eckhard Schaar, David Klemm: Italienische Zeichnungen der Renaissance aus dem Kupferstichkabinett der Hamburger Kunsthalle, Ausst.-Kat. Hamburger Kunsthalle 1997, S.108, Nr.59, Abb.66

Diane De Grazia: Bertoia, Mirola and the Farnese Court, [Bologna] 1991, S.115, Nr.D 21, Abb.56 (recto), 57 (verso)

Filippa M. Aliberti Gaudioso u. Eraldo Gaudioso: Gli Affreschi di Paolo III A Castel Sant’Angelo. Catalogo II. I disegni. Progetto ed esecuzione 1543-1548, Bd. II, Ausst.-Kat. Rom, Museo Nazionale di Castel Sant’Angelo 1982, S.197

Filippa M. Aliberti Gaudioso u. Eraldo Gaudioso: Gli affreschi di Paolo III a Castel Sant' Angelo: progetto ed esecuzione 1543-1548, Bd. 2, Ausst.-Kat. Rom, Museo Nazionale di Castel Sant’Angelo 1981, S.197, Nr.149

Eraldo Gaudioso: I lavori Farnesiani a Castel Sant’Angelo Precisazioni ed Ipotesi., in: Bolletino d'Arte, 1976, S. 21-36, S.36

V. T. [nicht aufgelöst]: Amburgo: Mostra di disegni italiani dal XV al XVIII secolo, in: Emporium. Rivista mensile illustrata d'arte e di cultura 76, 1957, Nr. 126, S. 228-229, S.229

[Wolf Stubbe]: Italienische Zeichnungen 1500-1800. Ausstellung aus den Beständen des Kupferstichkabinetts, Ausst.-Kat. Hamburger Kunsthalle 1957, S.22, Nr.96

Catalogue of the Highly interesting and important Collection of Drawings, by Ancient Masters ... comprising the entire Collection .. The Property of that well-known Judge of the Fine Arts, Samuel Woodburn, Esqu., Deceased, which will be sold by Auction, Juni 1854, Christie and Manson, London 1854, S.17, Nr.346

Catalogue raisonné des différents objets de curiosités dans les sciences et arts qui composaient le Cabinet de feu Mr Mariette ... par François Basan, Aukt.-Kat. Paris, Paris 1775, Nr.742

Pierre-Jean Mariette: Description sommaire des desseins des grands maistres d'Italie, des Pays-Bas et de France, du cabinet de feu M. Crozat : avec des réflexions sur la manière de dessiner des principaux peintres, Paris 1741, Nr.413