Giovanni Antonio Canal, gen. Canaletto
Blick auf die Vierung und in das nördliche Querschiff von S. Marco in Venedig, 1766
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Giovanni Antonio Canal, gen. Canaletto

Blick auf die Vierung und in das nördliche Querschiff von S. Marco in Venedig, 1766

Giovanni Antonio Canal, gen. Canaletto

Blick auf die Vierung und in das nördliche Querschiff von S. Marco in Venedig, 1766

Innenansichten von S. Marco in Venedig sind die einzigen Kircheninterieurs, die Canaletto geschaffen hat. Neben Gemälden mit Blick durch das Langhaus zum Chor (Anm.1) und Darstellungen der Chorpartie (Anm.2) hat ihn wiederholt der Blick aus dem südlichen Querschiff auf die Vierung und ins nördliche Querhaus beschäftigt. Die 1766 datierte Hamburger Zeichnung zählt innerhalb dieser Gruppe zu den besonders beeindruckenden Darstellungen.
Canaletto hat die Ansicht mit mindestens drei Zeichnungen vorbereitet. Eine Studie in der ehemaligen Sammlung Janos Scholz zeigt die südliche Kanzel ohne Sänger sowie die Chorwand in Umrissen.(Anm.3) Ebenfalls auf die Umrisse beschränkt sich eine Zeichnung im Victoria & Albert Museum in London, die den selben Bildausschnitt, aber ohne Staffagefiguren, zeigt.(Anm.4) Letztlich skizziert der Künstler auf einer Zeichnung in Weimar den unteren Teil der Architektur mit Federstudien von Staffagefiguren.(Anm.5) Eine der Personen, der aufblickende Mann am linken Rand, ist im rechten Vordergrund der Hamburger Zeichnung wieder verwendet worden. Wie in Weimar so hockt auch in Hamburg eine alte Frau auf den Stufen des Seitenaltars.
Vergleicht man die Ansicht Canalettos mit der heutigen Situation in der Kirche, so wird deutlich, dass der Künstler die Architektur und Ausstattung sehr genau wiedergegeben hat. Lediglich das Mosaik mit Märtyrern an der Nordwand des Querhauses wurde von ihm stark vereinfacht.
Verschwunden ist der an der Nordwand erkennbare altarähnliche Aufbau, dessen Funktion offensichtlich nicht genau geklärt werden kann. Trudzinski hat in Erwägung gezogen, dass Canaletto hier den auf einem Podest platzierten Reliquienschrein mit den Gebeinen des selig gesprochenen Dogen Pietro Orseolo dargestellt hat.(Anm.6) Clayton wies dies mit dem Hinweis zurück, dass die Ähnlichkeit des Schreins mit dessen auf einem Kupferstich dokumentierten Gestalt nur allgemeiner Art sei.(Anm.7) Darüber hinaus gibt der Künstler mit den eifrigen Sängern, dem auf dem Boden knienden Gläubigen und dem kauernden Hund Einblicke in den Kirchenalltag jener Zeit.
Das Blatt erhält seinen Reiz durch den geschickt gewählten Blickwinkel, der die schwer darstellbare, komplexe Architektur von S. Marco ahnen lässt, ohne ihr zu viel Gewicht einzuräumen. Bei aller Genauigkeit der Wiedergabe verliert sich Canaletto nicht in Kleinteiligkeit; was z. B. an der Art der Personendarstellung ablesbar ist. Wenig zu spüren ist von der einzigartigen, durch die Goldmosaiken hervorgerufenen dunkel-mystischen Raumatmosphäre von S. Marco. Canalettos Wiedergabe zeigt einen in relativ gleichmäßiges Licht getauchten Raum, in dem starke Licht-Schatten-Kontraste fehlen. Zu der ruhigen Gesamtwirkung trägt die sorgfältige Lavierung des Blattes mit grauer Tusche bei.
Eine stärker gedämpfte Stimmung erzielte Canaletto auf einer um 1735 entstandenen Zeichnung mit derselben Raumsituation durch die Verwendung vibrierender Federstriche.(Anm.8)
Die großformatige Hamburger Ansicht von S. Marco zählt sicher zu Canalettos anspruchsvollsten topographischen Zeichnungen. Sie ist in ihrer perfekten Inszenierung und Ausführung ein Kunstwerk für sich, das keiner Umsetzung mehr in ein Gemälde bedarf.
Canaletto war sich des Ranges dieser Zeichnung offensichtlich voll bewusst. Nicht ohne Stolz beschriftete er das Blatt mit einem Text, der sein Alter von 68 Jahren erwähnt und hervorhebt, dass er diese Zeichnung ohne Zuhilfenahme einer Brille oder Gläsern angefertigt hat.
Die Ansicht ist von besonderem dokumentarischen Wert, da sie die letzte sicher datierte Zeichnung des Künstlers darstellt, der zwei Jahre später verstarb.
Sammlungsgeschichtlich ist dieses Hauptblatt des Kupferstichkabinetts von Interesse, da es eine der ganz wenigen herausragenden Zeichnungen des 18. Jahrhunderts aus dem Nachlass Georg Ernst Harzens darstellt. Dieser hat Canalettos große Zeitgenossen Tiepolo, Piazzetta und Guardi gar nicht gesammelt und auch von Canaletto nur dieses eine Blatt besessen. Vor diesem Hintergrund kann vermutet werden, dass er die Innenansicht von S. Marco vor allem aus persönlichen Motiven erworben hat.

David Klemm

1 William George Constable: Canaletto, Giovanni Antonio Canal 1697-1768. Second Edition, revised by J. G. Links. Reissued with Supplement and additional Plates, Oxford 1989, Nr. 78, 79.
2 William George Constable: Canaletto, Giovanni Antonio Canal 1697-1768. Second Edition, revised by J. G. Links. Reissued with Supplement and additional Plates, Oxford 1989, Nr. 561 und 561*.
3 William George Constable: Canaletto, Giovanni Antonio Canal 1697-1768. Second Edition, revised by J. G. Links. Reissued with Supplement and additional Plates, Oxford 1989, Nr. 560.
4 London, Victoria & Albert Museum und Sammlung Paul Wallraf; Inv.-Nr. 411.85; William George Constable: Canaletto, Giovanni Antonio Canal 1697-1768. Second Edition, revised by J. G. Links. Reissued with Supplement and additional Plates, Oxford 1989, Nr. 559. Vgl. William George Constable: Canaletto, Giovanni Antonio Canal 1697-1768, 2 Bde., Oxford 1962, II, S. 454, Nr. 559–560.
5 Klassik Stiftung Weimar, Graphische Sammlung, Inv.-Nr. KK 8720; vgl. Geheimster Wohnsitz. Goethes italienisches Museum. Zeichnungen aus dem Bestand der Graphischen Sammlung der Kunstsammlungen zu Weimar (...),bearb. v. Hermann Mildenberger, Ursula Verena Fischer Pace, Sonja Brink, Lea Ritter-Santini, Im Blickfeld der Goethezeit III, Ausst.-Kat. Kunstsammlungen zu Weimar, Vaduz, Liechtensteinische Staatliche Kunstsammlung, Weimar 1999, S. 124–125, Nr. 24.
6 Ausst.-Kat. Hannover 1992, S. 286 (Beitrag Meinolf Trudzinski).
7 Martin Clayton: Canaletto in Venice, o. O. 2006, S. 164–165.
8 Windsor Castle, Royal Library, Inv.-Nr. 7430; Martin Clayton: Canaletto in Venice, o. O. 2006, S. 162–163.

Details zu diesem Werk

Beschriftung

Eigenhändig am unteren Rand bezeichnet und datiert: "Io Zuane Antonio da Canal, Hò fatto il presente disegnio [sic], delli Musici che canta nella Chiesa Ducal di S. Marco in Venezia in' ettà de- / Anni 68 Cenzza Ochiali, L anno 1766." (Feder in Braun); auf dem Verso signiert: "Io Zuane Antonio da Canal detto il Canaletto fecit" (Feder in Braun)

Unten links unterhalb des Bildmotivs bezeichnet: "10.0 13.3" (Bleistift); auf dem Verso im unteren Bereich in der Mitte Stempel der Hamburger Kunsthalle (L. 1328)

Provenienz

Georg Ernst Harzen (1790-1863), Hamburg (L. 1244); NH Ad : 02 : 01, S. 211 (als Canaletto); NH Ad : 01 : 03, fol. 92 (als Canaletto): "Das Innere der St Marcuskirche zu Venedig, während des Gottesdienstes wo auf einer Tribüne von einem Sängerchor eine Cantate aufgeführt wird. Mit der Unterschrift: [Text siehe: Beschriftung]. auf der Rückseite Jo Zuane Antonio da Canal, detto il Canaletto fecit. Sehr sauber und effectvoll mit Feder Tusche und etwas Bister ausgeführt. 10.0. 13.3."; Legat Harzen 1863 an die "Städtische Gallerie" Hamburg; 1868 der Stadt übereignet für die 1869 eröffnete Kunsthalle

Bibliographie

Kunst aus acht Jahrhunderten, hrsg. von Hamburger Kunsthalle und Freunde der Kunsthalle e.V., Hamburg 2016, S.301, Abb.

Bozena Anna Kowalczyk: Canaletto. Rome, Londres, Venise. Le triomphe de la lumière, Ausst.-Kat. Centre d'Art de l'Hotel de Caumont, Brüssel 2015, S.166-167, Abb., Nr.36

Silke Reuther: Georg Ernst Harzen. Kunsthändlier, Sammler und Begründer der Hamburger Kunsthalle, hrsg. von Hamburger Kunsthalle und Hermann Reemtsma Stiftung, 2011, Abb.S. 262

Dario Camuffo: und Il vedutismo veneziano: una nuova visione: La Camera Oscura: il nostro occhio nel passato, Sala della Passione Pinacoteca di Brera, Milano 2011, Abb.S. 105

Deborah Howard und Laura Moretti: Sound & Space. In Renaissance Venice, Yale University Press New Haven and London 2009, Nr.2, Abb.XVI

David Klemm: Italienische Zeichnungen 1450-1800. Kupferstichkabinett der Hamburger Kunsthalle, Die Sammlungen der Hamburger Kunsthalle Kupferstichkabinett, Bd. 2, Köln u. a. 2009, S.120-121, Nr.109, Abb.Farbtafel S. 60

David Klemm: Von Leonardo bis Piranesi. Italienische Zeichnungen von 1450 bis 1800 aus dem Kupferstichkabinett der Hamburger Kunsthalle, hrsg. von Hubertus Gaßner, David Klemm und Andreas Stolzenburg, Ausst.-Kat. Hamburger Kunsthalle, Bremen 2008, S.198-199, Abb, S. 235, Nr.92

Silke Leopold: Was haben Bach und Monteverdi miteinander zu tun?, in: Bach-Magazin 2007, Nr. 9, S. 14-17, Abb.15, Nr. II

Venise l’art de la Serenissima. Dessins des XVIIe et XVIII siècles. Le dessin in Italie dans les collections publiques francaises., Ausst.-Kat. Montpellier 2006, S.166

Clayton, Martin: Canaletto in Venice, Royal Collection Publications 2005, Abb.S. 164

Im Blickfeld. Die Jahre 1999/2000 in der Hamburger Kunsthalle, hrsg. von Uwe M. Schneede, Hamburg 2001, S.14-26, Abb.

Petra Roettig, Annemarie Stefes, Andreas Stolzenburg: Von Dürer bis Goya. 100 Meisterzeichnungen aus dem Kupferstichkabinett der Hamburger Kunsthalle, Ausst.-Kat. Hamburger Kunsthalle 2001, S.68-69, Nr.29, Abb.

Hanna Hohl: Nachrichten aus dem Kupferstichkabinett; Neuerwerbungen, Kupferstichkabinett 1999/2000, in: Im Blickfeld. Die Jahre 1999/2000 in der Hamburger Kunsthalle, Hamburg 2001, S. 14-26, 73-84, S.15, Abb.

Andreas Priever: und Allgemeines Künstlerlexikon, Canal, Giovanni Antonio, in: München, Leipzig, Bd. 16, 1997, , S.90

Michael Levey: Painting in Eighteenth-Century Venice, New Haven, London 1994, S.120, Abb.76 auf S. 121

Joseph G. Links: Canaletto, London 1994, S.235, Abb.S. 234

Venedigs Ruhm im Norden. Die großen venezianischen Maler des 18. Jahrhunderts, ihre Auftraggeber und Sammler, Ausst.-Kat. Forum des Landesmuseums Hannover 1991, S.286, Nr.98, Abb.

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William George Constable: Canaletto, Giovanni Antonio Canal 1697-1768. Second Edition, revised by J. G. Links. Reissued with Supplement and additional Plates, Oxford 1989, S.453-454, Nr.558, Abb.Taf. 102, 231

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Carl Dahlhaus: Neues Handbuch der Musikwissenschaft, Bd. 5, Laaber 1985, S.104

Canaletto. Disegni, Dipinti, Incisioni, hrsg. von Alessandro Bettagno, Ausst.-Kat. Venedig, Fondazione Giorgio Cini 1982, S.53, Nr.75, Abb.Taf. 75

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Terisio Pignatti: Canaletto Disegni, Florenz 1969, Abb.Taf. 45

Hundert Meisterzeichnungen aus der Hamburger Kunsthalle 1500-1800, Bd. 5, Ausst.-Kat. Hamburger Kunsthalle 1967, S.27-28, Nr.27, Abb.Taf. 28

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K. T. Parker, James Byam Shaw: Canaletto e Guardi. Catalogo della Mostra dei disegni, Ausst.-Kat. Venedig, Fondazione Cini, Venedig 1962, S.23, Nr.17

William George Constable: Canaletto, Giovanni Antonio Canal 1697-1768, Bd. 2, Oxford 1962, S.453-454, Nr.558, Abb.Taf. 102

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Detlev von Hadeln: Die Zeichnungen von Antonio Canal, genannt Canaletto, Wien 1930, Abb.Taf. 56

Odoardo H. Giglioli: [Anmerkungen zur Prestel-Mappe], in: Cronache d`Arte, 5, 1928, , S.263

August Liebmann Mayer: Zeichnungen Alter Meister in der Kunsthalle zu Hamburg. Italiener, Pantheon Band II, 1928, S. 388, S.388

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