Anonym, Oberitalien, Anfang 16. Jahrhundert
Anonym, Oberitalien, Anfang 16. Jahrhundert
Harzen vermutete bei der Darstellung von Maria mit Christus eine lombardische Herkunft, doch deuten sowohl die Komposition als auch die Zeichenweise eher ins östliche Oberitalien. Dort hat vor allem Giovanni Bellini zahlreiche Madonnenbilder mit einer Ă€hnlich innigen Verbundenheit zwischen Maria und Christus geschaffen. Gut vergleichbar sind allgemein die Darstellung der Madonna im HalbportrĂ€t, die Sitzhaltung des Kindes, der vordere Abschluss durch eine BrĂŒstung sowie der auf der Zeichnung nur angedeutete Ausblick in eine Landschaft.(Anm.1) Bei Cima da Conegliano findet sich neben einer grundsĂ€tzlichen Entsprechung zudem das ansonsten offensichtlich sehr seltene Motiv, bei dem Christus seinen Arm um den Hals Mariens herum legt.(Anm.2) Eine weitgehende kompositionelle Ăbereinstimmung bietet ein Domenico Morone (um 1442 â mindestens bis 1518) zugeschriebenes GemĂ€lde âMadonna und Kindâ in Wien.(Anm.3) Morone wurde von Mantegna und Cima beeinflusst, was die motivische Ăhnlichkeit erklĂ€rt.
Der etwas feste und steife Charakter von Kontur und Strichbild lĂ€sst die Vermutung zu, dass es sich nicht um einen Entwurf, sondern um eine Nachzeichnung â wohl nach einem bislang nicht bekannten GemĂ€lde â handelt. Die Dominanz der Feder und der sehr geringe Anteil der Lavierung an der Gestaltung deuten ebenfalls auf Giovanni Bellini. Allerdings sind dessen Federzeichnungen deutlich freier und vielschichtiger angelegt. Auf dem Hamburger Symposium wurden verschiedene KĂŒnstler Oberitaliens, wie z. B. Cima oder Caroto als mögliche Zeichner vorgeschlagen,(Anm.4) doch sind deren Zeichnungen allgemein viel stĂ€rker durch Lavierungen ins Malerische gewendet. Dies gilt auch fĂŒr Benedetto Montagna, wobei dessen Druckgraphiken im Strichbild zumindest an das Hamburger Blatt erinnern.
Das Verso bietet ein weiteres Beispiel fĂŒr die im Kabinett auffallend zahlreichen italienischen Zeichnungen nach Werken Albrecht DĂŒrers (vgl. z. B. Francesco Allegrini, Giulio Benso). In diesem Falle wurden âDie Beweinungâ und âChristus in der Vorhölleâ aus der Kupferstich-Passion ausgewĂ€hlt.(Anm.5) Die Kompositionen wurden jeweils in der Grundanordnung genau wiedergegeben. Der Zeichner konzentrierte sich auf skizzenhafte Umrissformen, eine exakte Detailwiedergabe lag nicht in seinem Interesse. Bei der âBeweinungâ wurden zwei Assistenzfiguren fortgelassen, wĂ€hrend bei âChristus in der Vorhölleâ der architektonische Raum nach oben hin verlĂ€ngert wurde. Insgesamt weisen die Skizzen den Zeichner als souverĂ€nen Kopisten aus. Die Zeichenweise ist freier als auf dem Recto. Aufgrund der partiell durchaus Ă€hnlichen Art der Schraffierung ist aber dennoch denkbar, dass beide Blattseiten von einer Hand stammen. Da DĂŒrers Stiche zwischen 1507 und 1512 entstanden sind, ist ein Terminus post quem fĂŒr die Datierung des Versos gegeben. Angesichts der motivischen NĂ€he zu um 1500 entstandenen GemĂ€lden ist eine Entstehung des Blattes im frĂŒhen 16. Jahrhundert wahrscheinlich. Eine Datierung ins 19. Jahrhundert, wie sie im Kupferstichkabinett zeitweilig angenommen wurde, ist auszuschlieĂen.
David Klemm
1 âMadonna und Kindâ, Bergamo, Accademia Carrara; âMadonna und Kind mit roten Cherubimâ, Venedig, Gallerie dellâ Accademia, vgl. u. a. Rodolfo Pallucchini: Giovanni Bellini, London 1962, Abb. 132, 133.
2 Madonna und Kind, ca. 1489â92; Paris, MusĂ©e Jacquemart-AndrĂ©; Humfrey 1983, S. 136â137, Nr. 115, Taf. 25; vgl. auch âMadonna und Kindâ, 1504; Este, Museo Nazionale Atestino; Peter Humfrey: Cima da Conegliano, Cambridge u. a. 1983, S. 101â102, Nr. 48, Taf. 114.
3 Wien, Akademie der bildenden KĂŒnste; vgl. Hans-Joachim Eberhardt: Domenico Morone, in: Maestri della Pittura Veronese, hrsg. v. Pierpaolo Brugnoli, Verona 1974, S. 91-100, S. 98 und S. 92, Abb. 62.
4 AnlĂ€sslich des Symposiums âItalienische Altmeisterzeichnungen 1450 bis 1800â am 27. und 28.10.2005 im Kupferstichkabinett der Hamburger Kunsthalle.
5 The Illustrated Bartsch 10 (7), 14 (37); ebd. 16 (39); Rainer Schoch, Matthias Mende, Anna Scherbaum: Albrecht DĂŒrer. Das druckgraphische Werk, Bd. 1: Kupferstiche, Eisenradierungen und KaltnadelblĂ€tter, MĂŒnchen, London, New York 2001, S. 145, 148.
Details zu diesem Werk
Beschriftung
Wasserzeichen / Kettenlinien
WZ: Kardinalshut mit stilisierter Schnur; Àhnlich Briquet 3404 (z.B. Udine 1503).
Verso
Titel verso: Studien nach Albrecht DĂŒrer
Technik verso: Feder in Hellbraun
Provenienz
Georg Ernst Harzen (1790-1863), Hamburg (L. 1244); NH Ad : 02 : 01, S.225 (als anonym); NH Ad : 01 : 03, fol. 124 (als Lombardische Schule): "Madonna mit dem Jesuskind; Halbfigur. Feder u Seppia. Auf der RĂŒckseite Federskizze nach DĂŒrer. 5.2. 6.8"; Legat Harzen 1863 an die "StĂ€dtische Gallerie" Hamburg; 1868 der Stadt ĂŒbereignet fĂŒr die 1869 eröffnete Kunsthalle
Bibliographie
David Klemm: Italienische Zeichnungen 1450-1800. Kupferstichkabinett der Hamburger Kunsthalle, Die Sammlungen der Hamburger Kunsthalle Kupferstichkabinett, Bd. 2, Köln u. a. 2009, S.386-387, Nr.587