Anonym, Mitte 16. Jahrhundert (italienisch)
Sich küssendes nacktes Paar,
Zurück Bildinfos ➕ 🗖

Anonym, Mitte 16. Jahrhundert (italienisch)

Sich küssendes nacktes Paar,

Anonym, Mitte 16. Jahrhundert (italienisch)

Sich küssendes nacktes Paar

Das Blatt galt noch für Harzen als Werk Annibale Carraccis, doch wurde diese Einschätzung im ersten Inventar mit einem Fragezeichen versehen. Sicherlich ist Carracci aufgrund seiner viel subtileren Zeichentechnik als Zeichner auszuschließen. Eine alternative Zuschreibung ist jedoch bislang nicht gelungen.
Die Darstellung zählt zu den seltenen erhaltenen Beispielen mit relativ freizügiger Erotik in der italienischen Zeichenkunst. Vor allem die offen dargebotene Scham der Frau ist sehr ungewöhnlich. Dieses Detail wurde entweder vom Zeichner selbst oder – was wahrscheinlicher ist – von einem späteren Besitzer mit einigen Schraffen verdeckt.
Unverkennbar sind die Figuren von Michelangelos Menschendarstellungen auf dem 1541 vollendeten „Jüngsten Gericht“ beeinflusst, womit ein Terminus post quem für die Szene gegeben sein könnte. Typisch für den Einfluss Michelangelos ist, dass die Frau körperlich größer und voluminöser als der Mann erscheint. Entscheidende Anregung für die freizügige Darstellung gab aber mit großer Wahrscheinlichkeit Gian Giacomo Caraglios (ca. 1500–1570) Kupferstichfolge „Liebschaften der Götter“ nach Entwürfen von Perino del Vaga. Innerhalb dieser Serie finden sich mehrere Darstellungen von nackten Paaren, wobei die Scham der Frau deutlich zu erkennen ist.(Anm.1)
Problematisch ist die Deutung der Szene nicht zuletzt, weil die Gruppe offensichtlich aus einem größeren Blatt ausgeschnitten worden ist und damit ehemals möglicherweise vorhandene Angaben zur räumlichen Umgebung verloren gegangen sind. Chris Fischer dachte an Francesca da Rimini und Paolo Malatesta.(Anm.2) Diese wurden – in späteren Jahrhunderten – häufiger als nacktes Paar dargestellt, allerdings nicht in dieser intimen Verbundenheit.(Anm.3) Harzen schlug die sich liebenden Mars und Venus vor (Anm.4), ein Thema, das sich auch bei Caraglio findet.(Anm.5) Deutlich größere formale Übereinstimmung zeigt Caraglios Darstellung von „Neptun und Doris“ bzw. „Neptun und Thetis“.(Anm.6) So ist vorstellbar, dass ein anonymer Zeichner sich von dieser Vorlage zu einer Interpretation göttlicher Liebe anregen ließ, wobei aufgrund der hier im Gegensatz zu Caraglios Bildern fehlenden Attribute keine nähere Bestimmung möglich ist.

David Klemm

1 Vgl. z. B. „Merkur besucht Herse“, The Illustrated Bartsch 28 (15), 12 (73) oder „Jupiter überrascht Antiope“, The Illustrated Bartsch 28 (15), 10 (73); möglicherweise ist für eine derartige Szene auch nordeuropäischer Einfluss denkbar. So hat z. B. Virgil Solis (1514–1562) auf seiner „Badestube“ ebenfalls ein eng umschlungenes Paar dargestellt. Allerdings ist dort als wesentlicher Unterschied die weibliche Scham kaum sichtbar. Zu der offensichtlich negativen Deutung derartiger Szenen vgl. Gerissen und gestochen. Graphik der Dürer-Zeit aus der Kunstsammlung der Universität Göttingen, hrsg. v. Gerd Unverfehrt, Ausst.-Kat. Paderborn, Museum für Stadtgeschichte, Emden, Johannes a Lasco-Bibliothek, Göttingen, Universität, Kunstsammlung, Göttingen 2001, S. 192–193, Nr. 84 (Beitrag Doreen Rollert).
2 Anlässlich des Symposiums „Italienische Altmeisterzeichnungen 1450 bis 1800“ am 27. und 28.10.2005 im Kupferstichkabinett der Hamburger Kunsthalle.
3 Baronin Marie Locella: Dantes Francesca da Rimini in der Literatur, Bildenden Kunst und Musik, Eßlingen am Neckar 1913.
4 Vgl. die Angaben im Inventar HK, KK, A, NH Ad: 02: 01, S. 211.
5 „Mars und Venus“, The Illustrated Bartsch 28 (15), 15 (74).
6 „Neptun und Doris“, The Illustrated Bartsch 28 (15), 11 (73). Vgl. den Kuss des Paares, die dem Betrachter zugewandte Haltung der Frau usw.

Details zu diesem Werk

Beschriftung

Auf dem Verso links: Stempel der Hamburger Kunsthalle (L. 1328); am linken Rand bezeichnet: "6.6 4.6" (Bleistift); unterhalb davon bezeichnet: "10 3/4 5/a.25." (Feder in Braun); unten rechts nummeriert: "30" (Bleistift)

Wasserzeichen / Kettenlinien

WZ: Doppelkonturiger Anker im Kreis, darüber Pfeilspitze, darunter Buchstabe „M“, neben dem Anker die Buchstaben „C“ und „A“, ähnlich Heawood 3 (Palermo 1726-50).

Provenienz

Von Georg Ernst Harzen (1790-1863), Hamburg (L. 1244) 1820 in Rom aus unbekannter Quelle erworben; NH Ad : 02 : 01, S. 211 (als Annibale Carracci); NH Ad : 01 : 03, fol. 93 (als Annibale Carracci): "Ein Paar in liegender Stellung, unbekleidet. Vortreffliches Blatt, Federzeichnung auf blau. P. gehöht. 10. 6. 4.6. Ausgeschnitten."; Legat Harzen 1863 an die "Städtische Gallerie" Hamburg; 1868 der Stadt übereignet für die 1869 eröffnete Kunsthalle

Bibliographie

David Klemm: Italienische Zeichnungen 1450-1800. Kupferstichkabinett der Hamburger Kunsthalle, Die Sammlungen der Hamburger Kunsthalle Kupferstichkabinett, Bd. 2, Köln u. a. 2009, S.397-398, Nr.603