Albrecht Dürer
Löwe, 1494
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Albrecht Dürer

Löwe, 1494

Albrecht Dürer

Löwe, 1494

Die auf Pergament gezeichnete Darstellung des Löwen entstand vermutlich während Dürers erster Venedigreise im Herbst 1494, wofür auch die in dieser Zeit verwandte Form des Monogramms „AD“ spricht.(Anm. 1) Die Ausführung des Blattes erinnert an die frühen Landschaftsaquarelle, die Dürer auf seiner Fahrt nach Venedig schuf.(Anm. 2) Auch dort findet sich jene Verbindung von präzis ausgearbeiteten Details und großzügigeren, die Gesamtsituation wiedergebenden Pinselstrichen, die das Hamburger Blatt charakterisiert. Wie die Landschaftsstudien ist die Zeichnung in einer Mischtechnik von Deckfarben und Aquarell gezeichnet.(Anm. 3) Ein wesentlicher Unterschied zu diesen Zeichnungen besteht jedoch in der bildmäßigen Ausführung und der schwarzen Rahmung des Blattes. Flechsig vermutet daher, dass es sich um einen Neujahrsgruß handelt, den Dürer Ende 1494 nach Nürnberg sandte, und vergleicht das Blatt auch auf Grund der ähnlich feinen Goldhöhungen mit dem ebenfalls auf Pergament gezeichneten „Jesusknaben“ von 1493 in Wien.(Anm. 4)
Die unnatürliche, teils liegende, teils stehende Haltung des Löwe hat zu unterschiedlichen Vermutungen über Dürers Vorlage geführt: Thausing wollte das Blatt noch als Naturstudie nach einem lebenden Löwen deuten.(Anm. 5) Seit David und Pauli wird dagegen ein unbekanntes Bild des Markuslöwen als Vorbild für die Zeichnung angenommen.(Anm. 6) Pauli erklärte damit auch die steife Darstellung der Vorderpranken, die in der Vorlage noch das Evangelienbuch hielten. Offen bleibt jedoch, ob als Vorbild ein Gemälde oder eine Skulptur zu Grunde lag.(Anm. 7) Insgesamt überwiegt die Meinung, dass es sich bei der Darstellung um eine Kompilation von mehreren Studien handelt: Der Kopf des Löwen ist sicher nach einer heraldischen Vorlage gestaltet, während für den zu schmal geratenen Körper der eines anderen Tieres, etwa eines Hundes, zum Vorbild genommen sein könnte.(Anm. 8) Die leicht überdehnte Figur des Löwen mit dem ungewöhnlich langen, gebogenen Schweif erinnert außerdem an Darstellungen der Planetenbilder, besonders des Planetengottes Sol, die Dürer aus mittelalterlichen Handschriften kannte.(Anm. 9)
Unhaltbar ist dagegen Winklers und Anzelewskys Vermutung, dass der Löwenkopf nach einer Naturstudie gezeichnet sei, die zugleich als Vorbild für zwei weitere Löwenstudien in Wien und Detroit gedient habe.(Anm. 10) Denn Dürer hatte vermutlich erst während seiner Reise in die Niederlande 1520/21 in Gent Gelegenheit, Löwen nach der Natur zu zeichnen, die er im sogenannten „Niederländischen Skizzenbuch“ festgehalten hat.(Anm. 11) Im Vergleich zu diesen Zeichnungen wird deutlich, wie sehr sich Dürer mangels eines wirklichen Vorbildes bei dem Hamburger Löwen bemühte, durch eine Landschaftskulisse die lebendige Präsenz des Tieres zu steigern. Der Eindruck einer in die Tiefe gestaffelten Landschaft mit dem im Hintergrund verlaufenden Küstenstreifen wird dabei betont, auf eine unbedingte Naturtreue scheint es Dürer jedoch nicht angekommen zu sein. So wirkt die Landschaft in manchen Partien, besonders im Bereich der Felshöhle, zu silhouettenhaft um den Körper des Tieres gelegt.(Anm. 12) Ähnliche kompositorische Schwierigkeiten charakterisieren die Darstellung des Löwen in dem kleinen Londoner Bild des „Büßenden Hl. Hieronymus“, das auf Grund der Nähe zum Hamburger Blatt um 1495 datiert wird.(Anm. 13) Trotz der Übereinstimmung in Physiognomie und Haltung wirkt das dort abgebildete Tier im Vergleich zu maskenhaft. Insgesamt erscheint das erst 1957 entdeckte Londoner Bild wie eine spätere Kompilation mehrerer dürerischer Motive, weshalb Zuschreibung und Datierung durchaus zur Diskussion gestellt werden sollten. Im Kupferstich des „Hl. Hieronymus in der Wüste“ (Bartsch 61), um 1496 datiert, findet sich der Hamburger Löwe dagegen eindeutig wieder, wie an der starren Haltung der Vorderpranken und dem langen Schweif zu erkennen ist.(Anm. 14)
Insgesamt bleibt jedoch die Funktion des Hamburger Löwen als Widmungsblatt, Vorstudie oder Studienmaterial rätselhaft. So nimmt die Zeichnung auch im Vergleich mit anderen Tierdarstellungen, wie der ebenfalls in Venedig entstandenen Naturstudie eines „Hummer“ von 1495, eine Sonderstellung ein.(Anm. 15) Unklar bleibt in diesem Zusammenhang auch die Bedeutung der schwarzen Einfärbung der Rückseite des Blattes. Die Frage nach der tatsächlichen Bedeutung des Blattes innerhalb Dürers Frühwerks bedarf daher dringend einer neuen Untersuchung.

Petra Roettig

1 Zum frühen Monogramm Dürers vgl. Flechsig 1931, Bd. 2, S. 17–18. Zur Datierung ferner Winkler 1936, S. 48, Nr. 65; Panofsky 1948, Bd. 2, S. 129, Nr. 1327 und Anzelewsky 1991, S. 121, Nr. 13. Wegen der ungewöhnlichen Technik wird das Blatt sowohl dem zeichnerischen als auch dem malerischen Werk Dürers zugeordnet. Anzelwesky hat das Werk zuletzt in den Corpus der Gemälde aufgenommen.
2 Vgl. die Innsbrucker Ansichten, 1494, Wien, Albertina, Inv.-Nr. 3057 und 3058, vgl. Strauss 1974, Bd. 1, S. 216, Nr. 1494/9, Abb. und S. 218, Nr. 1494/10, Abb. sowie die „Ansicht eines Felsenschlosses an einem Fluß“, 1494, Kunsthalle Bremen, Kupferstichkabinett, Inv.-Nr. Kl 9, vgl. Strauss 1974, Bd. 1, S. 330, Nr. 1495/35, Abb.; vgl. Ausst.-Kat. Wien 2003, S. 150–153, Nr. 16 und Nr. 17, Abb., sowie S. 156–157, Nr. 19, Abb.
3 Zur Technik der Aquarelle vgl. Piel 1983.
4 Wien, Albertina, Inv.-Nr. 3059, vgl. Ausst.-Kat. Wien 2003, S. 132–133, Nr. 8, Abb., vgl. Flechsig 1931, S. 403; ähnlich Winkler 1936, S. 48.
5 Thausing 1884, S. 117, daran anschließend Killermann 1910, S. 73.
6 David 1909, S. 33; Pauli 1923, S. 54; Panofsky 1948, Bd. 2, S. 129, Nr. 1327.
7 Pauli 1923, S. 54 und Ausst.-Kat. Hamburg 1967, S. 30, sowie Ausst.-Kat. Wien 2003, S. 168.
8 Vgl. Ausst.-Kat. Wien 2003, S. 168.
9 Vgl. Friedrich Teja Bach: Struktur und Erscheinung. Untersuchungen zu Dürers graphischer Kunst, Berlin 1996, S. 94–103; Dieter Blume: Regenten des Himmels: Astrologische Bilder in Mittelalter und Renaissance, Berlin 2000. Vgl. in diesem Zusammenhang Dürers Kupferstich „Sol Iustitiae“, um 1498/99 (Bartsch 79).
10 Winkler 1936, S. 48; Anzelewsky 1991, S. 122. Vgl. Dürers „Skizzen­blatt mit dem Raub der Europa“, 1494/95, Wien, Albertina, Inv.-Nr. 3062, vgl. Strauss 1974, Bd. 1, S. 230, Nr. 1494/16, Abb., vgl. Ausst.-Kat. Wien 2003, S. 168–169, Nr. 25, Abb., wo das Blatt als Vorstudie für die Hamburger Zeichnung gedeutet wird. Ferner Dürers „Liegender Löwe“, um 1494/95, Detroit, Institute of Arts, Inv.-Nr. 1934.158, vgl. Strauss 1974, Bd. 1, S. 234, Nr. 1494/18, Abb. und Uhr 1987, S. 18.
11 Vgl. Dürers Silberstiftzeichnung des „Liegenden Löwen“ von 1521 im „Niederländischen Skizzenbuch“, Wien, Albertina, Inv.-Nr. 22385, vgl. Ausst.-Kat. Wien 2003, S. 496–498, Nr. 174, Abb. sowie die Tage-bucheintragung vom 10.4.1521. Vgl. Dürer. Schriftlicher Nachlass, hrsg. v. Hans Rupprich, Bd. 1, Berlin 1956, S. 168.
12 Zum Verhältnis von Körper und Raum bei der Darstellung vgl. ausführlich Trux 1993, S. 39–43.
13 London, The National Gallery, Inv.-Nr. NG 6563, vgl. Ausst.-Kat. Wien 2003, S. 212–215, Nr. 46, Abb. (dort um 1496 datiert).
14 Ebd., S. 212–214, Nr. 45, Abb.
15 Berlin, Staatliche Museen, Kupferstichkabinett, KdZ 4942, vgl. Strauss 1974, Bd. 1, S. 302, Nr. 1495/21, Abb; vgl. Dürer Holbein Grünewald. Meisterzeichnungen der deutschen Renaissance aus Berlin und Basel, Ausst.-Kat. Basel 1997, S. 114–115, Nr. 10.7, Abb.

Details zu diesem Werk

Beschriftung

Auf dem schwarzen Rand unten links datiert und monogrammiert: "1494" und rechts " A d" (in Gold)

Unten links: Prägestempel der Sammlung Lawrence (L. 2445); auf dem Verso bezeichnet: "76 v r" (Bleistift)

Verso

Technik verso: Pergament in Deckfarben(?) schwarz grundiert

Provenienz

Thomas Lawrence (1769-1830), London (L. 2445); Georg Ernst Harzen (1790-1863), Hamburg (L. 1244), NH Ad: 01: 04, fol. 137: "Albrecht Dürer Ein schöner Löwe {sich R} im Grase ruhend, unter einer begrünten Felswand. Bez. 1494 A.D. Vortrefflich und mit höchstem Fleiß in Saftfarben {ausgeführt} beendigt und mit Gold gehöht, ohne Zweifel nach der Natur ausgeführt. Auf Pergament. 6.4.4.8"; und Ad: 02: 01, S. 232; Legat Harzen 1863 an die „Städtische Gallerie“ Hamburg; 1868 der Stadt übereignet für die 1869 eröffnete Kunsthalle

Bibliographie

Der frühe Dürer, hrsg. von Daniel Hess und Thomas Eser, Ausst.-Kat. Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, Nürnberg 2012, Nr.182

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Colin Eisler: Dürers Arche Noah. Tiere und Fabelwesen im Werk von Albrecht Dürer, München 1996, S.156-158, Abb.Taf. 20

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Horst Uhr: German Drawings and Watercolors including Austrian and Swiss Works. The Collection of the Detroit Institute of Arts, New York 1987, S.18, Nr.bei Nr. 2

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Joseph Harnest: Dürer und die Perspektive, in: Dürer, hrsg. von Peter Strieder, Königstein (Taunus) 1981, S. 347-360, S.218, Abb.218

Erwin Panofsky: Das Leben und die Kunst Albrecht Dürers, München 1977, S.41, 44, 74, 82, 94, 99, 435, Abb.49

Walter L. Strauss: The complete Drawings of Albrecht Dürer, Bd. 1, New York 1974, S.232, Nr.1494/17, Abb.233

Albrecht Dürer 1471 1971, Ausst.-Kat. Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, München 1971, S.302, Nr.560

Fedja Anzelewsky: Albrecht Dürer. Das malerische Werk, Berlin 1971, S.25, 120-122, Nr.13, Abb.11

Pierre Vaisse, Angela Ottino della Chiesa: Das gemalte Werk von Albrecht Dürer, Mailand 1968, S.91, Abb.91

Hundert Meisterzeichnungen aus der Hamburger Kunsthalle 1500-1800, Bd. 5, Ausst.-Kat. Hamburger Kunsthalle 1967, S.30-31, Nr.36, Abb.34

Friedrich Winkler: Albrecht Dürer: Leben und Werk, Berlin 1957, S.47

Edmund Schilling: Dürers Täfelchen mit dem Heiligen Hieronymus, in: Zeitschrift für Kunstwissenschaft XI, 1957, S. 175-184, S.176, 182, Abb.1

David Carritt: Dürer' s "St Jerome in the Wilderness", in: The Burlington Magazine XCIX, 1957, Nr. 656, S. 363-367, S.364, Abb.367, Nr. 4

Hans Th. Musper: Albrecht Dürer, Stuttgart 1952, S.39

Paul Wescher: An unnoticed Dürer Drawing in the Detroit Institute of Arts, in: The Art Quarterly 13, 1950, S. 156-160, S.159, Abb.3

Erwin Panofsky: Albrecht Dürer, Bd. 1, Princeton 31948, S.37, 78

Erwin Panofsky: Albrecht Dürer, Bd. 2, Princeton 31948, S.129, Nr.1327

Friedrich Winkler: Die Zeichnungen Albrecht Dürers 1484-1502, Bd. 1, Berlin 1936, S.48, Nr.65, Abb.Taf. 65

Albrecht Dürer. Sonderausstellung der Freunde der Kunsthalle e. V. Hamburg, Ausst.-Kat. Hamburger Kunsthalle 1936, Nr.16, Abb.

Eduard Flechsig: Albrecht Dürer. Sein Leben und seine künstlerische Entwicklung, Bd. 2, Berlin 1931, S.403

Hans Tietze, Erika Tietze-Conrat: Der junge Dürer. Verzeichnis der Werke bis zur venezianischen Reise im Jahre 1505, Bd. 1, Augsburg 1928, S.17, Nr.71, Abb.159

Zeichnungen von Albrecht Dürer in Nachbildungen, hrsg. von Friedrich Winkler, Bd. 6, Berlin 1927, S.11, Nr.621

Gustav Pauli: Dürers Monogramm, in: Festschrift für Max J. Friedländer zum 60. Geburtstage, Leipzig 1927, S. 34-40, S.35

Gustav Pauli: Dürer, Italien und die Antike, in: Vorträge der Bibliothek Warburg 1921-1922, hrsg. von Fritz Saxl, Leipzig 1923, S. 51-56, S.54

Gustav Pauli: Kunsthalle zu Hamburg. Ausstellung von Aquarellen aus dem Besitz des Kupferstichkabinetts, Ausst.-Kat. Hamburger Kunsthalle 1921, S.10, Nr.10, Abb.

Ausstellung von Zeichnungen Alter Meister aus den Sammlungen der Kunsthalle zu Hamburg, Ausst.-Kat. Kunstverein in Hamburg 1920, S.12, Nr.42

Sebastian Killermann: A. Dürers Pflanzen- und Tierzeichnungen und ihre Bedeutung für die Naturgeschichte, Strassburg 1910, S.72-73

H. David: Die Darstellung des Löwen bei Albrecht Dürer, Diss., Univ. Halle 1909, S.32-34

Moritz Thausing: Dürer. Geschichte seines Lebens und seiner Kunst, Bd. 1, Leipzig 21884, S.117

Charles Ephrussi: Albert Dürer et ses Dessins, Paris 1882, S.35-36