Kapitel der Ausstellung »Vija Celmins | Gerhard Richter. Double Vision«

Zu Vija Celmins und Gerhard Richter

In Riga geboren, emigrierte Vija Celmins als Kind über Deutschland in die USA, wo sie in den 1960er Jahren ihre Karriere als Künstlerin in Los Angeles (Kalifornien) begann. Seit den frühen 1980er Jahren lebt sie in New York. Celmins versteht ihre künstlerische Arbeit als eine Form der Übersetzung („redescription“) von einer Oberfläche auf eine andere – sei es in der direkten Anschauung von Objekten oder auf der Grundlage von Fotografien. Ihre Werke sind subtil, still und geprägt von einer Liebe zum Detail und setzen dabei ganz auf das ruhige, genaue Sehen sowohl beim Machen als auch beim Betrachten von Kunst.

 

Gerhard Richter teilt Kriegs- und Migrationserfahrungen mit Vija Celmins. Er wurde in Dresden geboren und emigrierte 1961 nach Düsseldorf, wo er an der dortigen Kunstakademie studierte und später als Professor tätig war. Das umfangreiche künstlerische Werk von Gerhard Richter, das sich durch einen großen Variationsreichtum und eine beeindruckende Bandbreite von Stilen auszeichnet, kreist – wie das seiner amerikanischen Kollegin – konsequent und beharrlich um elementare Fragen des Sehens und des Darstellens. Was ist Realität, was ist Repräsentation? Und wie kann die Wahrnehmung, das Sehen selbst, sichtbar gemacht werden?

Alltagsobjekte

Sowohl Vija Celmins als auch Gerhard Richter erachten ihre Gemälde von Alltagsgegenständen aus den frühen 1960er Jahren als den eigentlichen Beginn ihres künstlerischen Werdegangs. Ihre Bildmotive fanden sie in ihrer unmittelbaren Lebenswelt. Eine Lampe, ein Heizstrahler oder eine Kochplatte aus Celmins’ Atelier in Los Angeles (Kalifornien) sowie ein Küchenstuhl oder ein Vorhang aus Richters Düsseldorfer Wohnung wurden malerisch zur Kunst erhoben. Richters Gemälde beruhen zu jener Zeit schon auf fotografischen Vorlagen, die entweder selbst aufgenommen oder aus Zeitungen und Illustrierten entnommen waren. Zu malen, was es zu sehen gibt, ermöglichte es beiden Künstler*innen, sich den Dingen unmittelbar zuzuwenden und ihren Blick zu schulen. Ihre künstlerischen Anfänge waren geprägt von dem Wunsch, möglichst unbelastet von Theorie und überhöhten Deutungsansprüchen zu arbeiten.

Desaster

Vija Celmins’ und Gerhard Richters Biografien verbindet die frühe Erfahrung mit den Schrecken des Zweiten Weltkrieges. Zerstörung, Gewalt und Flucht prägten ihre Kindheit und Jugend. Celmins floh 1944 mit ihrer Familie aus ihrer lettischen Geburtsstadt Riga über das kriegszerrüttete Deutschland in die USA. Richter erlebte aus der Ferne die verheerenden Bombenangriffe auf Dresden im Februar 1945. Aktualisiert durch die medial vermittelten Bilder zeitaktueller Konflikte der 1960er Jahre fand sowohl bei Celmins als auch bei Richter eine künstlerische Auseinandersetzung mit ihren traumatischen Kindheitserfahrungen statt. Als Bildvorlagen dienten schwarzweiße Zeitungsfotos von Militärflugzeugen, Kriegsschiffen und brennenden Häusern. Die graue Farbigkeit dieser Bilder scheint die Dramatik der Motive in einen zeitlosen Schwebezustand zu versetzen: Die Grenze zwischen Gegenwart und Vergangenheit verschwimmt. Gleichzeitig schaffen die fotografischen Vorlagen Distanz zu den dargestellten Szenen – handelt es sich doch um Erinnerungs- oder Dokumentationsbilder aus zweiter Hand. Dieser Abstand bot beiden die Möglichkeit, sich ganz auf den Prozess des Malens und der Aufarbeitung zu konzentrieren.

Seestücke

Die Darstellung des Meeres spielt im Œuvre von Vija Celmins und Gerhard Richter eine gleichermaßen große Rolle. Wie kaum ein anderes Motiv eignet sich die unendliche Weite der bewegten Meeresoberfläche dazu, die Möglichkeiten und Grenzen von Illusionismus, Zeichenkraft und Malerei auszuloten. In der europäischen Landschaftsmalerei haben diese sogenannten Seestücke eine lange Tradition. Doch Celmins’ und Richters Meeresbilder entziehen sich sowohl der Idylle sogenannter pastoraler Landschaftsszenen, die seit dem 17. Jahrhundert Hirten und weidendes Vieh darstellten, als auch der Unmittelbarkeit der Freilichtmalerei des 19. Jahrhunderts. Ihre Bilder mögen real anmuten, sie sind jedoch bewusst konstruiert. Celmins’ Zeichnungen und Gemälde der Meeresoberfläche beruhen auf Fotografien der Künstlerin, welche sie über längere Zeiträume immer wieder mit verschiedenen Materialien auf Leinwand oder Zeichenpapier übertrug. Richters Meeres und Himmelpartien basieren auf unterschiedlichen Urlaubsfotos des Künstlers, die er im Nachhinein zusammensetzte. Die Struktur von Wellen und Wolken scheint ineinander überzugehen, sich zu spiegeln und provoziert die Frage: Was sehen wir wirklich?

Die Farbe Grau

Keinem anderen Thema hat sich Gerhard Richter im Laufe seiner künstlerischen Tätigkeit mit solcher Intensität und in einem solchen Variationsreichtum gewidmet, wie der der Farbe Grau. Schon die frühen Objektbilder, die Stühle, Tische und Vorhänge, die auf der Grundlage von schwarzweißen Fotografien entstanden, sind überwiegend in Grautönen gehalten. Die ersten grauen Monochromien (einfarbigen Bilder) stammen aus den 1960er Jahren und sind Teil von Richters sogenannten Farbtafeln. Hier tritt die Farbe als Ready-made in Erscheinung, als vorgefundenes und übernommenes Material, dem keine emotionalen oder illusionistischen Qualitäten anhaften. Andere rein graue Tafeln sind Resultat der frühen Übermalungen. Was zunächst als Geste der Zerstörung gedacht war, entwickelte der Künstler in den 1970er Jahren zu einer eigenen Bildsprache. Die graue Farbe wird zum gestalterischen Element, dessen Variationsreichtum in Farbauftrag, Bildträger oder Malinstrument immer wieder neu zur Aufführung kommt, ohne sich einer bestimmten Deutung zu unterwerfen. Auch Vija Celmins’ künstlerisches Werk zeichnet sich durch eine Reduktion der Farbigkeit zugunsten eines Nuancenreichtums von Grau aus. Den Weg zur reinen Abstraktion hat sie – im Gegensatz zu Gerhard Richter – jedoch bewusst nicht beschritten.

Spiegel und Doppelgänger

In welchem Verhältnis stehen Bilder und Wirklichkeit? Immer wieder kreisen die Arbeiten von Vija Celmins und Gerhard Richter um diese zentrale Frage. Mit Hilfe unterschiedlicher Strategien fordern ihre Kunstwerke unseren Blick heraus und stellen gleichzeitig das Sehen als Mittel der Erkenntnis auf den Prüfstand. Celmins arbeitet dafür mit Verdoppelungen: Über einen Zeitraum von mehreren Jahren schuf sie Bronzeabgüsse von Steinen, die sie zusammen mit den „originalen“ Findlingen ausstellt. Die Abgüsse sind so fein bemalt, dass gefundene und gemachte Objekte für das bloße Auge kaum zu unterscheiden sind. Auch Spiegelbilder basieren auf dem Vorgang des Verdoppelns. In Richters Werk finden sich Spiegel in unterschiedlichen Varianten und Größen. Während die farbig hinterlegten Spiegelgläser noch an Gemälde erinnern, wirken die industriell gefertigten Versionen zunächst wenig künstlerisch. Ihr Fertigungsprozess verleugnet jedes individuelle Dazutun, jede Interpretation von Wirklichkeit. Richter verweist mit dem Einsatz von Spiegeln in seiner Kunst auf das Dilemma, nicht die Realität selbst, sondern immer nur eine Illusion der Realität einfangen zu können.

Handwerkszeug

Selbstbewusst thematisieren Vija Celmins und Gerhard Richter mit ihren Werken das eigene künstlerische Handwerk und die Traditionen, die mit ihm verbunden sind. In der Zeit zwischen 1965 und 1966 malte Richter mehrere kleinformatige Gemälde von zwei übereinanderliegenden Papierblättern. Die untere rechte Ecke des oberen Blattes ist umgeschlagen. So entsteht der Anschein, als würde sich das Papier wölben – eine optische Täuschung, die in der Kunstgeschichte als Trompe-l’Œil (Augentäuschung) bezeichnet wird und deren Wurzeln bis in die Antike reichen. Auch Celmins bedient sich dieser künstlerischen Strategie. Ihre illusionistischen, bemalten Holzskulpturen von Radiergummis, Bleistiften und Schultafeln wirken täuschend echt. Gleichzeitig fordert die überproportionale Größe der Objekte den Eindruck der Illusion heraus. Ihre Werke täuschen unsere Augen und machen im selben Moment auf den Täuschungsversuch aufmerksam. Dabei eröffnet das augenzwinkernde Spiel mit den Kategorien Realismus und Wahrheit einen spannungsreichen Dialog über künstlerische Gattungs- und kunsthistorische Epochengrenzen hinaus.

Nah und Fern

Vija Celmins’ erste Darstellungen des nächtlichen Sternenhimmels entstanden in den 1970er Jahren. Seitdem begleitet sie das Motiv. Ihre Drucke, Zeichnungen und Gemälde wirken gleichzeitig erstaunlich realitätsnah und völlig abstrakt. Fast hat man das Gefühl, die Unendlichkeit des Weltalls greifbar vor Augen zu haben. Tritt man jedoch näher an die kleinformatigen Bilder heran, weicht der Illusionismus des Dargestellten der Materialität der Leinwand oder des Druckpapiers. Die Bildoberfläche bleibt undurchlässig und leugnet ihre Zweidimensionalität nicht. Der einzigartige Realismus von Celmins’ Werke stellt sich als ein doppelter heraus: Er umfasst sowohl das dargestellte Motiv, als auch den Prozess seiner Herstellung. Denn auch die Darstellungen des Nachthimmels basieren auf fotografischen Vorlagen, auf Satellitenbildern, die Celmins aus wissenschaftlichen Magazinen entnommen hat. Schaut man genauer hin, thematisieren ihre Drucke und Gemälde Bilder dieses Moment der medialen Vermitteltheit. Minutiös übernahm Celmins auch die Spuren des fotografischen Herstellungsprozesses der Vorlagen oder kehrte die Helligkeitswerte wie bei einem Fotonegativ um. Sehen, so lässt sich schlussfolgern, ist ähnlich der künstlerischen Tätigkeit ein Konstruktionsprozess, der unsere Augen, unseren Verstand und unsere Vorstellungskraft gleichermaßen herausfordert.