Kapitel der Ausstellung

Anfang mit Zukunft

Frühe Bilder
1902 in Berlin geboren, wuchs Ernst Wilhelm Nay in einer der lebendigsten Kunstmetropolen Europas auf. Schon während seiner Schulzeit unternahm er erste Malversuche. Doch erst nach einer abgebrochenen Lehre als Buchhändler und verschiedenen Gelegenheitsarbeiten bemühte sich der junge Nay um eine künstlerische Ausbildung: Mit drei seiner Gemälde, darunter das Bildnis Franz Reuter, stellte er sich 1924 bei dem Maler Karl Hofer an der Hochschule für Bildende Künste Berlin vor. Hofer, von Nays Talent überzeugt, verhalf ihm nicht nur zu seiner ersten Ausstellungsbeteiligung an der Preußischen Akademie in Berlin, sondern nahm ihn auch in seine Malklasse auf und förderte ihn.

Einige Werke Nays aus dieser Zeit offenbaren in ihrer Naturnähe und erdigen Tonigkeit eine stilistische Nähe zur Arbeit seines Lehrers sowie zu Vorbildern in der Kunstgeschichte. Andere hingegen lassen bereits erkennen, dass Nays Blick auf die neuesten künstlerischen Entwicklungen und damit nach Frankreich gerichtet war. In den vielzähligen Berliner Galerien bot sich ihm die Gelegenheit, Werke der Avantgarde im Original zu studieren. So scheint die mutige Farbgebung in dem Bildnis Franz Reuter vom Werk Henri Matisses inspiriert zu sein, während Landschaft mit Sandbergen eine Auseinandersetzung mit der Raumauffassung der Kubisten vermuten lässt. Nach Beendigung seiner Lehrzeit bei Hofer 1928 brach Nay jedenfalls gleich zu einer vierwöchigen Reise nach Paris auf, ins Zentrum der modernen Kunst.

Die Kräfte der Natur

Dünenbilder, Fischerbilder und Lofotenbilder
Um 1932 wuchs Nays Interesse für das komplexe Verhältnis zwischen Mensch und Welt. In seiner Kunst wollte er die kosmischen Zusammenhänge – die »mythische Bindung« – hinter der äußeren Erscheinung der Dinge sichtbar machen. Zunächst malte er einige abstrahierte Tierbilder. In ihnen überführte er den Einklang von Lebewesen und Natur in ein netzartiges System aus Flächen und Linien. Als er um 1935 an der Ostsee dem ursprünglichen Leben der Fischer begegnete, rückte zunehmend der Mensch ins Zentrum seiner Kunst. Dessen Eingebundensein in die Dynamik von Himmel und Erde, von Sturm und Meer drückte Nay mit dem kraftvollen Rhythmus der Farben aus. Die Bedeutung der Farben für seine Malerei wuchs immer mehr – aus ihnen ergaben sich erst die Formen.

Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 begannen für viele Kunstschaffende in Deutschland schwere Zeiten. Auch Nay wurde zeitweilig mit einem Ausstellungsverbot belegt und erlebte erste Diffamierungen. Als Mitglied der Reichskammer der Bildenden Künste erhielt er aber auch Malmaterialien und Beihilfen. Die Unterstützung durch den Lübecker Museumsdirektor Carl Georg Heise und den Maler Edvard Munch ermöglichten ihm 1937 eine erste Reise zu den norwegischen Lofoten-Inseln. Hier erlebte Nay mehr denn je die Verflechtung des Menschen mit der Natur. In seinen Bildern vereinfachte er dessen Gestalt fast zu einem Zeichen aus Farbe: Es geht in den kristallinen Formen der felsigen Umgebung auf und verwächst mit ihr zu einem großen Ganzen.

Zu den Quellen

Frankreich- und Hekate-Bilder
Im Dezember 1939 begann für Nay der Kriegsdienst. Als Soldat zunächst in Polen und Südfrankreich stationiert, konnte er selten künstlerisch arbeiten; erst als Kartenzeichner in Le Mans gewann er mehr Freiheit. Er knüpfte deutsche und französische Kontakte, auch zu dem Amateurkünstler Pierre Térouanne. Dieser überließ ihm sein Atelier mit Bibliothek und Garten und versorgte ihn mit Malmaterial: Bilder von üppigen Landschaften mit einander zugewandten Figuren entstanden. Nay vertiefte nun seine Kenntnisse über den Kubismus. Wie etwa Pablo Picasso brach er in seinen Werken Körper in ihre Einzelteile auf und setzte sie auf der Fläche neu zusammen.

Im Mai 1945 aus der Armee entlassen, zog sich Nay auf Einladung der Kunsthändlerin Hanna Bekker nach Hofheim am Taunus zurück. Er trug die Farben jetzt dick und mit bewegtem Pinselstrich auf und verlieh seinen Darstellungen somit große Lebendigkeit. Intensiv setzte er sich mit einer Gegenwart zwischen Zerstörung und Neubeginn auseinander; Anregungen dafür fand er in der Bibel und in den Mythen der griechischen Antike. In den geheimnisvollen Hekate-Bildern (benannt nach der Göttin der Magie) zeigte er Situationen von Verwandlung sowie ein idyllisches Dasein in der Natur. Mit dem Motiv der Quelle verwies er auf den Ursprung von Wasser, aber auch von Kultur und Zivilisation.

Das öffentliche Interesse an Nays Kunst wuchs rasch: Im Jahr 1947 hatte er mehrere Einzelausstellungen in Deutschland, 1948 war er erstmals auf der Biennale in Venedig vertreten.

Melodik der Farben

Fugale und Rhythmische Bilder
Mit den Hekate-Bildern hatte Ernst Wilhelm Nay eine wichtige Grundlage für sein weiteres Arbeiten gelegt. Doch überdachte er schon wenige Jahre später seine Bildmittel erneut. In den seit 1949 entstehenden Fugalen Bildern nahmen die farbigen Flächen nun schärfere Konturen an und gewannen an Leuchtkraft. Nay fand Anregung in der Fuge, einer Kompositionsform der Musik, in der verschiedene Stimmen zeitlich versetzt und doch gemeinsam erklingen: Durch ein Verschleifen, Wiederholen oder Umkehren von Farbflächen erzeugte er in seinen Bildern dynamische Bänder und rhythmische Schwünge. Sie kreisen häufig um schwarze Punkte und erzeugen optisch eine Bewegung. Der Bildinhalt ist kaum noch zu erfassen, und doch sind letzte Erinnerungen an Figuren vorhanden.

1951 zog Nay nach Köln. Die Lebendigkeit der Großstadt schlug sich in den Rhythmischen Bildern nieder, seinen ersten wirklich abstrakten Werken. Das Spiel aus Form, Linie und Farbe erschien nun freier, noch dynamischer – inspiriert durch Werke der Neuen Musik. Zeitweise wurden die vormals strengen Konturen unscharf und fransten aus, doch kehrte Nay bald wieder zu einer planvolleren Methodik zurück. Im Herbst 1953 übernahm er auch eine dreimonatige Lehrtätigkeit an der Landeskunstschule Hamburg: Hatte der Maler zunächst nur für sich selbst Grundsätze des Arbeitens formuliert, legte er diese nun seiner Lehre zugrunde. 1955 erschien seine kunsttheoretische Schrift Vom Gestaltwert der Farbe.

Im Kreis der Zeichen

Scheibenbilder, Augenbilder und Späte Bilder
Alle Wissenschaften faszinierten Nay, besonders die Mathematik und die Physik. Albert Einstein hatte nachgewiesen, dass Raum, Zeit und Materie keine festen, sondern veränderliche Größen waren. Es gab nun keine einzige, richtige Sicht auf die Welt mehr, sondern viele mögliche Standpunkte. Räumliche Verhältnisse wollte auch Nay darstellen, und dabei er entdeckte das Motiv der Scheibe für sich. In den 1950er Jahren entwarf er zahlreiche, an den Weltraum erinnernde Bilder aus übereinander liegenden Scheiben. Kontraste von dunklen-hellen oder warmen-kalten Farben versetzten sie optisch in Schwingung. Sie schienen zu wirbeln, sich aufzulösen oder über die Ränder hinaus zu drängen. Nay legte Schraffuren und spitze Ovale über seine Kreise und entwickelte 1963/64 Bilder, in denen riesige Augen wie magische Zeichen wirken. Drei an der Decke platzierte Augenbilder lösten 1964 auf der »documenta III« in Kassel einen Streit um Nay aus. Eine jüngere Kunstgeneration lehnte seine Malerei als inhaltsleere Dekoration ab. In den USA, besonders in New York, wurden seine Werke geschätzt und regelmäßig ausgestellt.

Von 1965 an vereinfachte Nay seine Malerei noch mehr: Aus wenigen intensiven Farben und gebogenen Formen baute er Kompositionen auf senkrecht verlaufenden Bahnen. Ausgedehnte Reisen durch die Welt regten ihn zu ruhigen, nahezu meditativen Werken an. Sie sind gegenstandsfrei, erinnern aber doch an Körper, an Glieder, Hände oder Augen. Bis zuletzt hielt Nay seine Kunst in der Schwebe zwischen Figur und Abstraktion.