Die Kapitel der Ausstellung

EINFÜHRUNG

Giorgio de Chirico: Magische Wirklichkeit

Leere weite PlĂ€tze, rĂ€tselhafte Stillleben, magisch aufgeladene RĂ€ume – verfĂŒhrerisch und zugleich seltsam, einzigartig und von intensiver Wirkung sind die Bilder, die der Maler Giorgio de Chirico (1888–1978) vor gut 100 Jahren schuf.

Den ungewöhnlichen Stil, den de Chirico von 1909 bis 1919 entwickelte, bezeichnete der französische Dichter Guillaume Apollinaire (1880–1918) als »metaphysisch« (griech. metĂĄ: jenseits, dahinter; phĂœsis: Natur). Die Herangehensweise des KĂŒnstlers an die Malerei war zu seiner Zeit am Rande der avantgardistischen Bewegungen, doch sie sollte einen starken Einfluss auf die gesamte moderne Kunst haben, vom Surrealismus bis zur Neuen Sachlichkeit.

Der Italiener Giorgio de Chirico wurde 1888 in Griechenland in eine aus Konstantinopel stammende kosmopolitische Familie geboren. Er studierte vor allem die deutsche SpĂ€tromantik von 1906 bis 1909 in MĂŒnchen. Im Anschluss an Reisen nach Florenz, Turin und Mailand, verbrachte er die Jahre von 1911 bis 1915 in Paris, wo er der Avantgarde begegnete. In den Kriegsdienst eingezogen, malte er von 1915 bis 1919 in der italienischen Kleinstadt Ferrara weiter.

In unserer Ausstellung setzen wir den Fokus auf eben diese entscheidenden Jahre des Umbruchs in seinem Werk von 1906 bis 1919 in ihrem Kontext. De Chirico entwickelte die metaphysische Malerei in einem unruhigen Europa, das durch den Ersten Weltkrieg wie auch die Pandemie der Spanischen Grippe gekennzeichnet war.

De Chirico erforschte in seinen GemĂ€lden die Frage nach dem Sichtbaren. Er glaubte, der Geist und das Geheimnis der Welt, welche die alten Zivilisationen in Mythen zum Ausdruck brachten, seien nicht in einem unsichtbaren Jenseits, sondern in der greifbaren und materiellen Welt zu finden. Dabei hatte das Denken des deutschen Philosophen Friedrich Nietzsche (1844–1900) einen tiefen Einfluss auf ihn. Dessen Ideen zur ewigen Wiederkehr des Gleichen, zur Stimmung – die de Chirico als »AtmosphĂ€re im geistigen Sinne« beschreibt – ebenso wie zur UnbestĂ€ndigkeit aller Werte regten den Maler zu seinen Motiven und Kompositionen an. Wirken die Dinge und ihre Anordnung in seiner neuartigen Kunst scheinbar ĂŒberdeutlich und einfach lesbar, zeigt er sie darin zugleich in ihren potentiellen Bedeutungen und mit den durch sie ausgelösten Assoziationen.

Wie weitreichend diese Bilder der Erinnerung, Intuition und Vorahnung bis heute wirken können, vermutete schon der Kopf der surrealistischen Bewegung, AndrĂ© Breton (1896–1966): Man kann sagen, dass de Chiricos GemĂ€lde vor 1918 [
] einzigartiges Prestige genießen und sie mit ihrer Gabe, die am wenigsten konformistischen, untereinander höchst uneinigen Geister um sich zu versammeln, nach wie vor enormen Einfluss haben und erst am Anfang ihrer Karriere stehen.
André Breton, 1941

Ikonisch sind Giorgio de Chiricos Bilder von leeren, sonnenbeschienenen PlĂ€tzen mit langen Schatten geworden, die so verfĂŒhrerisch weit und zugleich instabil und versperrt wirken. Er hat damit vor ĂŒber 100 Jahren die Wirkung von Leere sichtbar gemacht. Zu eben solchen widersprĂŒchlich wirkenden, leeren PlĂ€tzen, die sonst im urbanen Alltag kaum vorkommen, fanden sich 2020 erstaunliche Entsprechungen in neuen realen Raumerfahrungen und unzĂ€hligen medial vermittelten Bildern: Die Maßnahmen zur EindĂ€mmung der Pandemie Covid-19 zwangen seit MĂ€rz 2020 Menschen auf der ganzen Welt zu massiven EinschrĂ€nkungen in ihrer Bewegungs- und Versammlungsfreiheit. So haben Sie ebenso schöne wie beunruhigende Szenen der Leere wĂ€hrend dieser Zeit aufgenommen und auf unseren Aufruf hin eingesendet. Wir zeigen in der Ausstellung und auf unserer Webseite eine weiter wachsende Auswahl und bedanken uns herzlich fĂŒr Ihre Teilnahme! Sie können bis zum 10. April 2021 weitere VorschlĂ€ge senden an: submission[at]hamburger-kunsthalle.de.

DER SUCHENDE KÜNSTLER

De Chirico und die SpĂ€tromantik – vor und nach der metaphysischen Malerei

Giorgio de Chirico entwickelt die Grundlagen seiner »metaphysischen Malerei« um 1908/09 in MĂŒnchen unter dem Eindruck der SpĂ€tromantik. Hier studiert er Originale und Reproduktionen nach Werken von Arnold Böcklin (1827–1901) und Max Klinger (1857–1920).

Er fĂŒhlt sich durch ihre Kompositionen und Techniken, ihre Suche nach der Wiedergabe von Stimmungswerten sowie durch ihren RĂŒckbezug auf antike Mythen und deren Aktualisierung bestĂ€rkt: Beide KĂŒnstler verbanden Elemente unterschiedlicher RealitĂ€tsebenen so miteinander, dass Unwirkliches wahrscheinlich und auch fĂŒr Zeitgenossen bedeutsam erschien.

Möglich, dass der Einfluss Böcklins Klinger angespornt hat, in zahlreichen Radierungen die mythische Existenz zu verwirklichen, die uns so merkwĂŒrdig erregt. Er stellt den Zentauren, den Faun, den Triton nicht inmitten der einsamen Natur oder in Begleitung von Göttern dar, wie es die KĂŒnstler stets zu tun pflegen. Bei ihm treten sie [
] in einer ĂŒberraschenden RealitĂ€t auf, sie sind â€șnatĂŒrlichâ€č.
De Chirico, 1920

Dies erinnert de Chirico an die in seiner Kindheit im griechischen Thessalien erlebte Verschmelzung von Mythos und Alltag. Hieraus entwickelt er schrittweise seine Kombinatorik, welche die bei Böcklin und Klinger bewunderte »Stimmung« noch verstĂ€rkt. Über ihre Vision, antike Mythen und Zeitgenossenschaft zu vereinbaren, stĂ¶ĂŸt er zum Anliegen der arte metafisica (metaphysischen Kunst) vor: Statt bekannte Mythen zu illustrieren, will er neue schaffen.

De Chirico wird im Anschluss an seine so intensive wie kurze metaphysische Phase (1909/10– 1919) wieder auf beide KĂŒnstler zurĂŒckkommen. Mit dem Auftaktbild dieser RĂŒckkehr, dem Selbstbildnis als Odysseus (1922–1924), wird sein an Böcklin angelehnter heimwehkranker Held – seit der Antike Metapher des Wissens und der Sehnsucht – zugleich zum Ausdruck von de Chiricos eigener, von Suche und geistigen Abenteuern geprĂ€gten Lebensreise. 

Stimmung, Poesie und das RĂ€tsel der Zeit – Kunst als Offenbarung

Giorgio de Chirico beginnt ab Mitte 1909 die LektĂŒre von Friedrich Nietzsches Ecce homo (1908) und Also sprach Zarathustra (1885). Sie löst eine fundamentale ErschĂŒtterung seiner Denk- und Sehgewohnheiten aus:

Diese Neuartigkeit ist eine fremdartige und tiefe Poesie, unendlich geheimnisvoll und einzelgĂ€ngerisch, die auf der Stimmung beruht (ich verwendete dieses Ă€ußerst aussagekrĂ€ftige deutsche Wort, das auf Italienisch etwa mit der â€șAtmosphĂ€re im geistigen Sinnâ€č ĂŒbersetzt werden könnte), auf der Stimmung, sage ich, eines Herbstnachmittages, wenn der Himmel klar ist und die Schatten lĂ€nger sind als im Sommer, weil die Sonne allmĂ€hlich nicht mehr so hoch steht.
De Chirico, 1945

Es ist eine besondere Stimmung, die fĂŒr ihn der Poesie von Nietzsches Sprache entspringt. Zudem fasziniert den jungen Maler die Vorstellung von einer ewigen Gegenwart – von einem Augenblick in der Schwebe zwischen einer flĂŒchtigen Vergangenheit und einer Zukunft, die unmittelbar zur Vergangenheit wird. Mit seiner »metaphysischen Malerei« versucht er, diese Stimmung, das RĂ€tsel der Zeit sowie weitere Fragen des Philosophen, beispielsweise zur Bedeutung von Zeichen, auf seine Weise zu bearbeiten. Angeregt wird de Chirico dabei auch durch seine umfangreiche LektĂŒre zum VerhĂ€ltnis von Religion und Kunst sowie zur Bedeutung von Symbolen als Kommunikationsmittel bei Naturvölkern. De Chirico gelangt zu der Auffassung, dass Kunst auch in der modernen Zeit »evangelisch« sein mĂŒsse. Er versteht darunter, dass sie Neues und Unbekanntes offenbaren und hervorbringen solle.

STADTLANDSCHAFTEN

Turin – die bĂŒrgerliche und kulturelle IdentitĂ€t

Den frĂŒhen metaphysischen GemĂ€lden der Pariser Zeit (1911–1915) ist Giorgio de Chiricos Suche nach einer eigenen IdentitĂ€t eingeschrieben. Die verlassenen PlĂ€tze, Arkaden und TĂŒrme sind verfremdete, eher auf GefĂŒhlen denn RealitĂ€ten begrĂŒndete Ansichten Turins. Die Stadt, die de Chirico 1911 auf seiner Reise nach Paris besuchte, wird zur BĂŒhne seiner Phantasie. Denn sie hatte einerseits eine wichtige Rolle fĂŒr seine eigene Familiengeschichte gespielt. Andererseits war Turin der Ort gewesen, an dem Friedrich Nietzsche 1888 vor seinem Zusammenbruch nochmals seine von de Chirico bewunderte Gedankenwelt formuliert hatte.

In herbstliche Nachmittagsstimmung getaucht, wirken die zwischen 1912 und 1914/15 gemalten Stadtlandschaften ebenso einladend wie verstörend: Eine FontĂ€ne und zahlreich wiederholte Arkadenbögen, unendlich hoch scheinende TĂŒrme verweisen auf die nietzscheanische »ewige Wiederkehr des Gleichen«. Die Klarheit der Komposition trĂŒgt, verschiedene perspektivische Fluchtpunkte lassen das Auge unruhig wandern. Traum oder RealitĂ€t? Alles scheint voller WidersprĂŒche, das nicht Fassbare evoziert eine Sehnsucht nach Unerreichbarem.

Griechenland – die politische und kulturelle IdentitĂ€t

Auf einem leeren »Turiner« Platz zeigt de Chirico eine Skulptur Ariadnes, der Tochter des Königs von Kreta. Sie hat gemĂ€ĂŸ der griechischen Mythologie dem athenischen Königssohn Theseus durch einen Faden geholfen, dem Labyrinth des Minotaurus zu entkommen und erwartet hier (halb) schlafend Dionysos.

De Chirico bezieht sich auf Nietzsches VerstĂ€ndnis des Mythos als Metapher fĂŒr Erkenntnis und kĂŒnstlerisches Schaffen: Ariadne ist die weibliche Seele, welche durch die Hochzeit mit Dionysos den Körper erfĂ€hrt und der Menschheit einen zweiten Faden reicht. Dieser leitet die Menschen zurĂŒck in ein Labyrinth, in dem Seele und Körper, Mann und Frau, Vernunft und Unbewusstes verschmelzen und sich so tiefste Wahrheiten enthĂŒllen.

Hier fĂŒhrt de Chirico den Gedanken in die metaphysische Ästhetik ein, dass jedes Werk aus der Vereinigung vermeintlich weiblicher und mĂ€nnlicher Elemente hervorgehe. Diese können durch Statuen aber auch Arkaden beziehungsweise TĂŒrme, Schornsteine oder Kanonen symbolisiert werden.

Die Inszenierung der kretischen Prinzessin vor dampfenden ZĂŒgen ist zudem als WĂŒrdigung der frĂŒhen griechischen Wahlheimat seiner Familie zu verstehen und bezieht sich auch auf die Modernisierungsprogramme der dortigen Liberalen, denen sein Vater als Eisenbahningenieur nahestand.

DIE EINSAMKEIT DER ZEICHEN

Paris – die kulturelle IdentitĂ€t

De Chirico setzt sich in Paris ab 1912/1913 nicht nur mit dem spĂ€ten philosophischen Werk Friedrich Nietzsches, sondern auch mit der Lyrik des französischen Dichters Arthur Rimbaud (1854–1891) auseinander. Auf dieser Grundlage beginnt er Ende 1913, verschiedenste unbelebte Elemente in sein metaphysisches Bildvokabular einzufĂŒhren. Er entnimmt sie der Geschichte, der Philosophie, seinem Alltag oder Erinnerungen an seine Kindheit. Isoliert voneinander und vor allem ohne erkennbaren Bezug zueinander inszeniert er sie auf der BildflĂ€che.

Als reine »Zeichen«, ohne Verweise auf Deutung, Logik, inhaltliche, rĂ€umliche oder zeitliche Einbindung entfachen so realistisch gemalte Artischocken, Bananenstauden oder GipsabgĂŒsse von Skulpturen ihr assoziatives Potential bei den Betrachtenden. Dieses PhĂ€nomen, das spĂ€ter vom Surrealismus aufgenommen und weitergefĂŒhrt wird, nennt de Chirico im RĂŒckblick »solitudine dei segni«, die »Einsamkeit der Zeichen«.

Der Dialog mit der Avantgarde in Paris

Korrespondenzen und SkizzenbĂŒcher dokumentieren Giorgio de Chiricos Austausch mit KĂŒnstlern in der Pariser Zeit. 1913 besucht er gemeinsam mit Guillaume Apollinaire (1880–1918) das Atelier Pablo Picassos (1881–1973). Die PrĂ€gung durch dessen frĂŒhe kubistische Werke war schon an den zergliederten Körpervolumina der Ariadne-Darstellung in Der Lohn des Wahrsagers (1913) erkennbar. Ab dem FrĂŒhjahr 1914 konzentriert er sich dann verstĂ€rkt auf den kĂŒnstlerischen Dialog mit Picasso. Dieser schĂ€tzt die Werke des von ihm ironisch als »le peintre des gares« (»der Bahnhofsmaler«) bezeichneten jungen Italieners ebenfalls.

Auch die kubistischen Werke des ukrainischen Bildhauers Alexander Archipenko (1887–1964) entdeckt de Chirico: Er sieht dessen Kompositionen aus verschieden farbigen Materialien bei seinem italienischen KĂŒnstlerfreund Alberto Magnelli (1888–1971). Sie beeinflussen unter anderem de Chiricos GemĂ€lde Der Troubadour (1917). Magnellis GemĂ€lde Mann mit Hut (1914) ist ebenfalls von Archipenko inspiriert – so von seinem heute nur noch als Bronzeguss erhaltenem Kopf (1913/1957).

DIE SEHENDE KUNST

Kunst und Poesie als Erlösung

»Metaphysisch«, rĂ€tselhaft, geheimnisvoll, so beschreibt der Poet und Kunstkritiker Guillaume Apollinaire (1880–1918) 1913 die Werke Giorgio de Chiricos. Beeindruckt von ihrer Neuartigkeit, wird er zu de Chiricos wichtigstem Förderer und Freund. Er ĂŒberzeugt Paul Guillaume (1891–1934), ab 1914 sein KunsthĂ€ndler zu werden.

Mit Apollinaire teilt de Chirico das Interesse an antiken orphischen (sich auf den mythischen SĂ€nger und Dichter Orpheus berufenden)
Geheimlehren. Dies bestÀrkt de Chirico darin, mit seiner Malerei eine Theorie von Kunst als Erlösung, als mystische Wiedergeburt zu entwickeln.

In Die Sehnsucht des Dichters stellt de Chirico 1914 die Poesie als die Kunst der (Hell-)Sehenden dar. ReprĂ€sentiert wird die Dichtung durch die GipsbĂŒste mit der geschwĂ€rzten Brille fĂŒr Blinde: FĂŒr die Gegenwart blind, seien Poeten wie Apollinaire imstande, Vergangenheit und Zukunft klar zu erkennen. In RĂŒckbezug auf Nietzsche, der 1888 in Turin seinen psychischen Zusammenbruch erlitt, beschĂ€ftigt sich de Chirico zugleich mit dem schmalen Grat zwischen Hellsicht und Wahnsinn, den kĂŒnstlerisches Schaffen erst auslote.

Der Mensch als Gliederpuppe

Giorgio de Chirico, dessen Vorstellungswelt tief in der griechischen Mythologie verwurzelt ist, nutzt Utensilien seines Kunststudiums: GipsabgĂŒsse, Winkelmaße, Statuen. Die Gliederpuppe (manichino) ist das wohl charakteristischste Element seiner metaphysischen Bilder: eine hybride Figur, in der GegenstĂ€nde Gliedmaßen ersetzen, gestellt in einen perspektivisch irrefĂŒhrenden Bildraum. Ab 1914 entwickelt der KĂŒnstler ihre Ausformung kontinuierlich fort – parallel zu Ereignissen seiner Biographie.

Die ersten Gliederpuppen erscheinen als hölzerne PerĂŒckenköpfe mit einer wie durch Schneiderkreide gestrichelten Linie. Der KĂŒnstler stellt die TĂ€tigkeit des Schneiders in Bezug zum antiken Bildhauer, der Idealproportionen des menschlichen Körpers berechnete.

StĂŒtzen, mit denen die zunehmend isoliert inszenierten Gliederpuppen erscheinen, unterstreichen deren leblosen Charakter – kamen entsprechende Hilfsmittel doch bei der Anfertigung von Totenbildnissen zum Einsatz. Zahlreiche manichini tragen schließlich auf Augenhöhe ein teils mit einem Kreis oder Stern verziertes Band: Dieses verweist auf antike Initiationsriten (Riten zur Aufnahme in bestimmte Gruppen) und verleiht dem gesichtslosen Kopf eine rĂ€tselhafte Aura.

Im Gehirn des Kindes

1920 erspĂ€ht AndrĂ© Breton (1896–1966), der BegrĂŒnder des, Surrealismus, im Vorbeifahren de Chiricos GemĂ€lde Der WiedergĂ€nger (1914) in einem Schaufenster der Pariser Galerie Paul Guillaume. Die große Neuartigkeit des Werkes bewirkt bei ihm einen solchen Ă€sthetischen Schock, dass er unvermittelt aus dem Bus aussteigen und es besitzen muss. Er behĂ€lt das GemĂ€lde sein Leben lang. FĂŒr die Gruppe der Surrealisten bekommt es Fetisch-Charakter. Es löst vielfache kĂŒnstlerische Auseinandersetzungen damit aus – von Picasso bis Max Ernst – und begrĂŒndet die surrealistische WĂŒrdigung der metaphysischen Malerei de Chiricos.

Der französische Schriftsteller Louis Aragon (1897–1982) wird es spĂ€ter Das Gehirn des Kindes nennen. Die geschlossenen Augen des dargestellten Mannes verweisen erneut auf die Vorstellung des KĂŒnstlers, der hellsichtig im Halbschlaf oder Wachtraum Offenbarungen erlebt. Das vor ihm liegende gelbe Buch ist angeregt von de Chiricos französischer Ausgabe von Nietzsches Also sprach Zarathustra (1912).

Ausgehend von diesem GemÀlde entwickelt Breton 1928 seine surrealistische Interpretation des »sehenden Malers«, der Kunst aus Offenbarungen schafft und zitiert de Chiricos Worte:

Besonders kommt es darauf an, die Kunst von allem zu befreien, was sie an schon Bekanntem enthĂ€lt, alle GegenstĂ€nde, alles Gedachte, alle Symbole mĂŒssen beiseitegeschoben werden. [
] die Offenbarung, die ein Werk der Kunst in uns hervorbringt, [
] muss derart stark in uns sein, dass sie uns mit solcher Freude oder solchem Schmerz erfĂŒllt, der uns zum Malen zwingt [...].
De Chirico nach André Breton, 1928

ARTE METAFISICA

Die GesÀnge des Halbtodes

Tiefe, Geheimnis, Traum und Offenbarung sind SchlĂŒsselbegriffe sowohl fĂŒr Giorgio de Chirico als auch fĂŒr seinen Bruder Alberto Andrea de Chirico (1891–1952). Ihn stellt Giorgio de Chirico 1909/10 als einsamen KĂŒnstler angesichts der RĂ€tsel der Welt dar. Formal noch angeregt von Arnold Böcklin (1827–1901), zeigt er ihn vor der heimatlichen Landschaft Thessaliens im Norden Griechenlands.

Die BrĂŒder entwickeln ab 1909 gemeinsam die Idee der metaphysischen Kunst (arte metafisica): Diese sollte sich als eine, die Grenzen von Malerei, Literatur und Musik ĂŒbergreifende Art zu denken und erleben ausdrĂŒcken.

Alberto de Chiricos musikalische Begabung hatte sich schon frĂŒh gezeigt. 1906 nimmt er in MĂŒnchen Kompositionsstunden bei Max Reger (1873–1916). Giorgio de Chirico wohnt diesen als Übersetzer bei und begegnet in Regers Sammlung Reproduktionen nach Werken Böcklins.

Alberto de Chiricos Kompositionen zeichnen sich durch scheinbar unverbundene, unharmonische GerĂ€usche und KlĂ€nge aus. 1914 fĂŒhrt er in Paris unter seinem KĂŒnstlernamen Savinio mit Les chants de la mi-mort (Die GesĂ€nge des Halbtods) ein Konzert auf, das Musik, Literatur, Theater und BĂŒhnenbild verbindet. Den Titel wĂ€hlt er in Anspielung auf Arthur Schopenhauers (1788–1860) Gedanken zum Wahrnehmen zwischen Wachheit und Traum. Dieser Zustand des WachtrĂ€umens ist auch fĂŒr Giorgio de Chiricos Konzept der Offenbarung zentral.

DIE METAPHYSIK DER DINGE

Eine Welt jenseits von Sinn und Logik

In Ferrara erfolgt ab 1915 ein radikaler Wechsel von Themen und Ikonographie im Werk Giorgio de Chiricos. Er flĂŒchtet vor den Grauen des Krieges in den materiellen Mikrokosmos des AlltĂ€glichen. Themen wie Sehnsucht und Melancholie verlieren die unendliche Dimension. Mit scheinbar klinisch kaltem Blick analysiert er die belebte und die unbelebte Materie und findet auch hier – in einer »Metaphysik der gewöhnlichen Dinge« – eine Welt jenseits von Logik und Sinn.

VerkĂŒrzte Perspektiven verdichten die GemĂ€lde und Zeichnungen. Geographische Karten, Bilderrahmen, Abzeichen und Signalflaggen sowie typisches GebĂ€ck aus Ferrara werden angehĂ€uft. Deutlich wird dabei nicht nur de Chiricos bereits seit der Pariser Zeit (1911–1915) bestehende Vorliebe fĂŒr die Kombination nicht zusammengehöriger Dinge. Die ZusammenfĂŒhrung von Requisiten der zivilen und militĂ€rischen Welt auf engstem Raum zeigt zudem seinen Wunsch nach Sicherheit geschlossener RĂ€ume und nach innerer Ordnung und Sammlung.

Das Bild im Bild

WĂ€hrend der Jahre in Ferrara (1915–1918) malt Giorgio de Chirico immer wieder Bilder im Bild. Sie erscheinen inmitten metaphysischer Interieurs, die von schwindelerregenden Perspektiven, angehĂ€uften Winkelmaßen, Vermessungswerkzeugen und Leisten geprĂ€gt sind. In den gerahmten Bildern inszeniert er zunĂ€chst Alltagsobjekte wie GebĂ€ck oder Landkarten.

Ab 1916 integriert er realistische Darstellungen von Landschaften oder GebĂ€uden, die sich in seinem direkten Umfeld befinden. So zeigt Metaphysisches Interieur mit großer Fabrik (1916) die Ansicht einer nahe gelegenen Fabrik, welche de Chirico einer Postkarte entnahm. Diese geometrischen Kompositionen fordern unsere Wahrnehmung und Unterscheidung von Innen- und AußenrĂ€umen heraus.

Metaphysische Stillleben

WĂ€hrend des Ersten Weltkriegs (1914–1918) intensiviert sich Giorgio de Chiricos Suche nach einer »evangelischen«, auf die Zukunft gerichteten Botschaft der Kunst: Diese mĂŒsse Unbekanntes offenbaren. Nach den Kriegserlebnissen, der eigenen Überwindung der Spanischen Grippe und in Trauer um den Tod seines Freundes Guillaume Apollinaire (1880–1918), greift der KĂŒnstler Ende 1918 mit dem GemĂ€lde Heilige Fische ein frĂŒhchristliches Symbol fĂŒr Heil und Wiedergeburt auf. De Chirico setzt die Objekte in diesem metaphysischen Stillleben so ins Bild, dass der Kontrast zwischen ihrer realistischen Darstellungsweise und ihrer seltsamen Zusammenstellung betont wird: Die Wirklichkeit drĂ€ngt sich in ein ikonographisches System, das irreal ist.

Werke wie dieses regen in der Folge gleichermaßen KĂŒnstler des französischen Surrealismus wie der deutschen Neue Sachlichkeit in ihrer kĂŒnstlerischen Suche an.

DIE VERBREITUNG DER PHYSIK

Carlo CarrĂ 

ZufĂ€llig begegnen sich der italienische Futurist Carlo CarrĂ  (1881–1966) und Giorgio de Chirico im FrĂŒhjahr 1917 in Ferrara. Sie werden beide Patienten in der Villa del Seminario, einem MilitĂ€rkrankenhaus, in dem traumatisierte Soldaten behandelt werden. Vier Monate lang arbeiten sie dort Seite an Seite. Die sie umgebenden Objekte finden Einzug in ihre metaphysischen Werke: Instrumente der BehandlungsrĂ€ume, Prothesen fĂŒr versehrte Soldaten, Schneiderpuppen, Drechselarbeiten aus den WerkstĂ€tten sowie Utensilien fĂŒr FreizeitbeschĂ€ftigungen.

Dabei entwickeln de Chirico und CarrĂ  eine Lesart des Krieges aus der Sicht jener, die seine Folgen erleiden mĂŒssen und zeigen eine Existenz zwischen zwei Extremen, einem grausamen Krieg und dem Alltagsleben im Krankenhaus.

Den offenkundigen Einfluss de Chiricos auf seine Werke versucht CarrĂ  spĂ€ter durch Überarbeitungen abzumildern. Besonders deutlich wird dies in der Entwicklung der Gliederpuppen: Diesen verleiht er eine emotionalere Wirkung, indem er sie realer erscheinen lĂ€sst.

Giorgio Morandi

WĂ€hrend des Ersten Weltkrieges betĂ€tigt sich der italienische Maler Giorgio Morandi (1890–1964), der wegen schwerer SchwĂ€cheanfĂ€lle schnell aus dem MilitĂ€rdienst ausgemustert wurde, vor allem als Zeichenlehrer. Seinen kubistisch-futuristischen Stil hat er schon ĂŒberwunden, als er ab Ende 1918 den Blick anhand von zunĂ€chst Reproduktionen der Werke Carlo CarrĂ s (1881–1966) und Giorgio de Chiricos schult und erste Experimente mit der metaphysischen Bildsprache beginnt.

Gedrechselte HolzstĂ€be, Tischlerschablonen, Flaschen und GefĂ€ĂŸe erscheinen auch in seinen radierten und gemalten Stillleben. Nutzte de Chirico diese Objekte hĂ€ufig als Stellvertreter, zeigt Morandi sie als Dinge an sich und dies in immer weiter entwickelter NĂŒchternheit der Farbgebung. In ihrer (stadt-)landschaftlichen Anordnung, der besonderen, so leer wie verdichtet erscheinenden Raumauffassung und damit durch ihre ganz eigene Interpretation der metaphysischen Malerei, wirken die Werke Morandis Ă€hnlich intensiv und beunruhigend wie de Chiricos frĂŒhe Stadtlandschaften.

Der Suchende KĂŒnstler

De Chiricos RĂŒckkehr zu Max Klinger

Mit den Geheimnisvollen BĂ€dern (Bagni misteriosi) entwickelt Giorgio de Chirico weit nach Ende seiner metaphysischen Phase, ab 1934, eine ebenso poetische wie beunruhigende Serie. Aus den WasseroberflĂ€chen erheben sich Badekabinen und geheimnisvolle Schwimmer. Neben bĂŒrgerlich bekleideten Besuchern bestimmen mythologische Figuren wie Zentauren (Mischwesen zwischen Mann und Pferd) und Meeresgötter die Szenen.

Die zehn dazugehörigen Lithographien der Folge Mythologie (1934) begleitet ein Text von Jean Cocteau (1889–1963). Die Graphiken sind durchdrungen von Erinnerungen an die öffentlichen BĂ€der, die de Chirico als Kind mit seinem Vater besuchte sowie an antike Mythen, deren poetische Kraft und Phantasie seine Jugend im griechischen Thessalien prĂ€gten. Zugleich kommt de Chirico hier wieder auf Max Klinger (1857–1920) zurĂŒck, den er noch 1920 als »den modernen KĂŒnstler schlechthin« bezeichnet und der ein wesentlicher Ausgangspunkt fĂŒr die Entwicklung seiner metaphysischen Malerei gewesen war. Klingers ZusammenfĂŒhrung von Antike und Gegenwart bestĂ€rkt de Chirico in den 1930er Jahren erneut in seiner Suche nach einer Verbindung von Realem und Irrealem.